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 Kleingartenidylle vor der Mauer der JVA Plötzensee.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Charlottenburg-Nord: Wo die Raucher Witze reißen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 15: Charlottenburg-Nord.

Vermutlich sind auch Sie schon einmal am Jakob-Kaiser-Platz aus der U7 gestiegen, um mit dem Flughafenbus weiter nach Tegel zu fahren. Vielleicht haben auch Sie sich beim Umsteigen gefragt, ob es in Berlin einen hässlicheren Ort gibt als diese Bushaltestelle, wo Autos zwölfspurig die Luft verpesten und Sozialbauten achtstöckig den Himmel verdunkeln. Eventuell hat es auch Sie geärgert, dass die Stadt Ihnen den Weg in den Urlaub ausgerechnet mit diesem Anblick vermiest, den Sie noch ein bisschen gemeiner fanden, als Sie nach dem Urlaub wieder am Jakob-Kaiser-Platz ankamen und deprimiert in die U7 stiegen. Sie fragten sich, wozu man überhaupt in eine Stadt zurückkehrt, die sich zur Begrüßung von ihrer garstigsten Seite zeigt.

So ist Charlottenburg-Nord.

Es fühlte sich ziemlich seltsam an, mit der U7 am Jakob-Kaiser-Platz anzukommen und nicht in den Flughafenbus zu steigen. Ich wartete, bis alle Touristen ihre Rollkoffer in den X9er gewuchtet hatten, dann kehrte ich dem Kurt-Schumacher-Damm den Rücken, duckte mich unter einer Platane hindurch und betrat einen Trampelpfad, der ins Sozialbauviertel führte. Es kam mir vor, als hätte ich ein Geheimportal durchschritten, an dem ich vorher tausendmal ahnungslos vorbeigelaufen war. Ich war Alice, und die Welt hinter den Spiegeln hieß Charlottenburg-Nord.

Einige Zuhörer lachen. Die anderen husten

Zum Alice-Gefühl passte, dass mir auf den Wiesen zwischen den Hochhäusern lauter Kaninchen über den Weg hoppelten. „Die stehen hier unter Schutz“, erklärte mir eine ältere Dame, die ihren Dackel ausführte. „Das wissen die auch. So zahme Kaninchen gibt’s sonst nirgends. Die schert’s nicht mal, wenn ich mit dem Hund an ihnen vorbeilaufe.“ Vielleicht lag es an den Kaninchen, vielleicht aber auch an den hohen Kiefern, Kastanien und Robinien, dass mir das Viertel von innen nicht halb so abschreckend vorkam wie von außen. Mit ein bisschen Fantasie konnte man sich sogar einbilden, dass das stetige Rauschen in der Luft dem Wind in den Bäumen zu verdanken war – und nicht der nahen Stadtautobahn.

Jugendfreizeitangebot in Charlottenburg-Nord.
Jugendfreizeitangebot in Charlottenburg-Nord.

© Jens Mühling

Im „Brinks Treff“ am Heckerdamm lief Cat Stevens. Ein paar ältere Pilstrinker unterhielten sich über ihre Nikotinsucht, einer gab Lungenkrebslyrik zum Besten: „Siehst du die Leichen dort am See? / Das sind die Raucher von HB. / Siehst du die Leichen dort am Strand? / Das sind die Raucher von Stuyvesant.“ Ein paar Zuhörer lachten, andere husteten.

Nach Osten hin reichten Kleingärten bis an die hohen Mauern der JVA Plötzensee. Beim Lesen der Vereinsprosa in den Aushangkästen stieß ich auf diese Meldung: „Multi-Kulti-Fest am 24. Juni 2017 fällt leider aus, wegen Mangel an Beteiligung der verschiedenen Kulturen.“

So schroff der Ortsteil auf den ersten Blick wirkte, so viel gab es bei näherem Hinsehen zu entdecken. Die verstörende Hinrichtungsbaracke der Gedenkstätte Plötzensee, die eindringlichen Totentanzgemälde von Alfred Hrdlicka im Gemeindezentrum am Heckerdamm, das Freibad im Volkspark Jungfernheide, schließlich das Kloster der „Unbeschuhten Karmelitinnen“, in dessen kleinem Gartenlabyrinth die Nonnen nicht barfuß, sondern in Sandalen einherschritten. Als ich abends wieder den Jakob-Kaiser-Platz erreichte, hatte ich das Gefühl, einen langen Flug hinter mir zu haben.

Graslabyrinth im Klostergarten der "Unbeschuhten Karmelitinnen" .
Graslabyrinth im Klostergarten der "Unbeschuhten Karmelitinnen" .

© Jens Mühling

Fläche: 6,2 km² (Platz 62 von 96)

Einwohner: 19 470 (Platz 55 von 96)

Durchschnittsalter: 44,2 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Harald Poelchau (Gefängnispfarrer und Antifaschist)

Gefühlte Mitte: U-Bahn Jakob-Kaiser-Platz

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

Diese Kolumne erschien am 17. Juni 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

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