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Blankenburg mag's festlich.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Blankenburg: Wo die Engel barfuß fliegen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 7: Blankenburg.

Wo es Einfamilienhäuser gibt, gibt es immer auch originelle Hundewarnschilder. Ein besonders originelles sah ich an einem Gartenzaun in Blankenburg: „Liebe Einbrecher! Organspende hier jederzeit ohne Anmeldung, ohne Wartezeit, ohne Narkose. Viel Spaß!“ Den dazugehörigen Hund sah ich nicht. Den Einbrecher auch nicht, dafür einen bedauernswerten Postboten, der mit seinem Fahrrad die Briefkästen abklapperte und jedes Mal fluchte, wenn sich kalbsgroße Hunde krachend gegen die Gartenzäune warfen, heiser röchelnd, sinnlos sabbernd. Ich rief dem Mann ein paar mitfühlende Worte zu. Dankbar sah er mich an. „Manche dieser Viecher sind so irre, dass sie die Zäune kaputtbeißen“, sagte er düster. „Es gibt hier Häuser, da verweigere ich die Zustellung. Wenn die Leute ihre Hunde nicht im Griff haben, geht ihre Post zurück.“

Mein Blick fiel auf die nackten Sohlen zweier Holzfüße

Neben vielen Einfamilienhäusern und entsprechend vielen Hunden gibt es in Blankenburg den „einzigen erhaltenen barocken Taufengel“ der Stadt – so steht es auf einer Infotafel vor der Feldsteinkirche im Ortskern, die leider verschlossen war. Ich lief um das Gotteshaus herum, in der Hoffnung, die über dem Altar schwebende Engelsfigur durch ein Fenster sehen zu können. Als ich endlich ein geeignetes fand, fiel mein Blick auf die nackten Sohlen zweier Holzfüße. Hastig zog ich mich zurück, in der Sorge, die Anwohner könnten es unschicklich finden, wenn ein Fremder ihrem Engel unter den Rock starrt.

Dabei haben die Blankenburger ganz andere Sorgen. Jeder, mit dem ich sprach, schimpfte über das Bauprojekt im Südosten des Ortsteils, wo neue Wohnungen für 18.000 Menschen gebaut werden sollen. Blankenburg hätte dann viermal so viele Einwohner wie bisher, was nicht jedem hier behagt. „Die werden nämlich sicher nicht alle aus Deutschland hierherziehen“, raunte ein Spaziergänger vielsagend. Bevor ich etwas erwidern konnte, zog der Mann mit seinem riesigen Schäferhund weiter. Unwillkürlich fragte ich mich, ob das wohl der Hund war, vor dem das Organspende-Schild warnte.

Steht die Machtübernahme des Proletariats bevor?

Ich traf aber auch ganz andere Menschen in Blankenburg. In der „Speisekammer“, einem gemütlichen Gemischtwarenladen mit Mittagsküche, kam ich mit einem auffällig elegant gekleideten älteren Herrn ins Gespräch, der sich als pensionierter Korrespondent der DDR-Nachrichtenagentur ADN herausstellte. Zehn Jahre hatte er in Frankreich verbracht, ein paar weitere in Westafrika. Beiläufig erzählte er, wie 1968 in Paris die Studenten „Nieder mit der Bourgeoisie“ skandierten – und er seinen begeisterten Agenturchefs in Ost-Berlin beibringen musste, dass trotzdem keine Machtübernahme des französischen Proletariats bevorstand. Später hatte er einmal den kongolesischen Premierminister Patrice Lumumba vor einer Amtsenthebung bewahrt, weil er der Einzige im Raum war, der dem britischen UN-Kommandanten ins Englische übersetzen konnte, was Lumumba auf Französisch zu seiner Verteidigung vorbrachte – eine Rolle, die in seinem ADN-Bericht natürlich nicht vorkam. Umso lieber erzählte er nun mir davon. Unsere Kohlsuppe wurde kalt, während ich gebannt seinen Geschichten lauschte. Als wir uns am Ende verabschiedeten, konnte ich kaum glauben, dass ich immer noch in Blankenburg war.

Fläche: 6,03 km² (Platz 67 von 96)

Einwohner: 6814 (Platz 82 von 96)

Durchschnittsalter: 46,8 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Hansjürgen Bernschein (Ortsteilchronist), Johannes Maus (Schauspieler)

Gefühlte Mitte: Café „Speisekammer“

Diese Kolumne erschien am 22. April 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

Alle Folgen zum Nachlesen: tagesspiegel.de/96malberlin.

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