zum Hauptinhalt
Für das Flughafen-Areal hat der Berliner Senat schon große Pläne.

© Kai-Uwe Heinrich

TXL-Volksentscheid: Der Pegel von Tegel

Wie ist am Tag des TXL-Referendums die Stimmung am Flughafen Tegel? Ein Sonntagsbesuch bei Anwohnern und Reisenden.

Fünf Stunden noch, und in Tegel stehen sie Schlange. Ganz vorn in der Haupthalle, zwischen Lufthansa-World-Shop und der Treppe hinaus zur Business Lounge, alles vorhanden auf dem Weltflughafen TXL. Über geschätzt 50 Meter reiht sich Passagier an Passagier und Rollkoffer an Rollkoffer. Werden da letzte Wahlgeschenke verteilt, späte Entscheidungshilfen für alle, die nach monatelanger Dauerberieselung immer noch nicht wissen, ob sie nun für den Weiterbetrieb von Tegel stimmen sollen oder dagegen.

Mal nachgucken. Unauffällig vorbei an der Schlange, sie ist mittlerweile auf 60 Meter angewachsen, und am Ende warte kein Lobbyist mit Freibier oder Schokoherzen. Sondern der Schalter für die Passkontrolle, ausgestattet für zwei Grenzbeamte. Mehr war beim Bau vor bald einem halben Jahrhundert nicht eingeplant.

Alltägliches Treiben

TXL gibt sich am Tag X so entspannt, wie das möglich ist auf einem Flughafen, dessen geplante Infrastruktur seit Jahren um ein Vielfaches überstrapaziert wird. Durch die schmalen Gänge des damals revolutionären Sechseckes in Terminal A walzt sich eine internationale Rollkofferbrigade. Vor den mobilen Abfertigungsschaltern an den einzelnen Gates, bei der Eröffnung 1974 der ultimative Chic in der Flughafen-Architektur, müssen Absperrgitter den Andrang kanalisieren.

In den nach der Ausrufung des Airport-Shopping-Zeitalters eingebauten Läden zeitigt das Angebot von gewöhnlichen Parfums und Textilien zu ganz und gar nicht gewöhnlichen Preisen hohe Nachfrage. Selbst vom Weg an die frische Luft ist dringend abzuraten, weil sich dort die Raucher versammeln, praktischerweise gleich neben den Türen, wo noch die Überdachung gegen das unwirtliche Herbstwetter schützt. Nikotinfreie Terminals waren 1974 noch nicht erfunden.

Kurze Frage eines Touristen an die Dame hintern Informationstresen. „Ist das heute wegen der Wahl so voll?“ – „Nein, so geht das jeden Tag. Wenn ich am Abend nach Hause gehe, dröhnt es so in meinem Kopf so laut, dass ich nicht mal den Fernseher anstellen kann. Fliegen Sie nach Hause? Haben Sie ein Glück!"

Mehr als ein Flughafen

Tegel ist ein Flughafen und doch viel mehr. Das alte West-Berlin verbindet die von Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg in Beton gegossene Geometrie immer den Freiheitskampf der Frontstadt. Schlimm genug, dass die Politik Tempelhof aufgegeben hat, jetzt muss wenigstens Tegel verteidigt werden. Der angeblich perfekt angeschlossene Flughafen im Stadtzentrum, obwohl Tegel alles andere als zentral liegt und zu einer perfekten Anbindung auch S- und U-Bahn gehören sollten.

In Tegel hat es nur zu ein paar chronisch überfüllten und chronisch im Stau stehenden Bussen gereicht. Das hat damals keinen interessiert, weil Flugreisen in den Siebziger Jahren ein Angebot für höhere Gesellschaftsschichten waren, und die setzten sich für gewöhnlich nicht den Widernissen des öffentlichen Nahverkehrs aus. Die Ballermannbilligflüge für das gewöhnliche Volk sind ein Symptom des dritten Jahrtausends.

Von draußen drückt der Nieselregen gegen den grauen Beton und die die Panoramascheiben. Aber schlechtes Wetter ist bekanntlich gut gegen die Politikverdrossenheit und sorgt für regen Andrang in den Wahllokalen. Diese These erfährt auch in Tegel ihre Bestätigung.

Die Wahllokale sind gerammelt voll, repräsentative Stichproben verheißen ein offenes Rennen, gegen 14 Uhr liegt Weizenbier leicht vor Pils, Tee und Kaffee folgen mit dem erwarteten Abstand. Einer bringt noch Gummibärchen ins Spiel mit der gewagten Prognose: „Heute Abend bekommen wir eine Haribo-Regierung“, aber er lässt offen, welche Farben er dabei präferiert.

„Sorry, I don’t understand!“

Was nun das Volksbegehren betrifft: Schnell mal dem Zettel mit dem offiziellen Text aus dem Rucksack holen und beliebigen Passanten vorlesen. „Der Flughafen ‘Otto-Lilienthal‘ ergänzt und entlastet den geplanten Flughafen Berlin Brandenburg „Willy Brandt“ (BER). Der Berliner Senat wird aufgefordert, sofort die Schließungsabsichten aufzugeben und alle Maßnahmen einzuleiten, die erforderlich sind, um den unbefristeten Fortbetrieb des Flughafens Tegel als Verkehrsflughafen zu sichern!“

Ratlose Blicke. „Sorry, I don’t understand!“ Weitere Versuche ergeben Antworten auf Spanisch, Italienisch und einem slawisch klingenden Idiom, vielleicht Polnisch. Tegel liegt zwar, anders als die Konkurrenz von Schönefeld (alt und neu) auf Berliner Stadtgebiet, genießt aber ähnlich wie diplomatische Vertretungen einen exterritorialen Status.

Einheimische Bürger sind am Wahlsonntag nur schwer auszumachen. Einziger Hinweis auf den Volksentscheid ist ein riesige Plakat vor der Rampe zu Terminal A: „Flughafen zieht aus. Berlin zieht ein.“

Tegel, quo vadis?

Eine unsichtbare Bannmeile gegen alle politischen Botschaften legt sich um das Sechseck und die in der Nachwendezeit in den märkischen Sand gewürfelten Anschlussmodule gelegt. TXL 2017 ist nicht mehr der 1974 gefeierte Flughafen der kurzen Wege. Sondern ein scheinbar nach dem Zufallsprinzip angelegtes Sammelsurium von Terminals und Ergänzungsbauten, Parkplätzen und Zufahrtsstraßen, ständig erweitert und doch immer zu klein.

Wer es, trotz aller umweltrelevanten Bedenken, ernst meint mit einem modernen innerstädtischen Flughafen, der müsste den gesamten Komplex eigentlich abreißen und neu bauen. Aber erstens würde das dem schönen Sechseck nicht gerecht werden und sich, zweitens, auch nur schwer mit der angespannten Berliner Haushaltslage vertragen.

Was nun werden soll über den Wahltag hinaus? Die Befragung der üblichen Verdächtigungen liefert die üblichen Ergebnisse. Den internationalen Gästen ist es egal, die Kellnerin im Bistro will keinesfalls den liebgewonnenen Arbeitsplatz im Nordwesten gegen eine Weltreise in den Südosten tauschen. Die Taxifahrer sind schon mal deshalb gegen Schönefeld, weil sie dort nach der gegenwärtigen Gesetzeslage keine Fahrgäste aufnehmen dürfen. Und die junge Mutter mit Kinderwagen besteht auf Lärmfreiheit.

Aber um eine junge Mutter mit Kind zu finden, muss man schon mit dem Bus eine Viertelstunde zum Kurt-Schumacher-Platz fahren. Auch dort, an der Grenze der lärmgeplagten Stadtteile Reinickendorf und Wedding, kündet nichts von der Wahl, die das Volk an diesem verregneten Sonntag hat. Kein Tegel-Retter aus der FDP, keine von der SPD aufgebotene Frau, die sich die Ohren zuhält.

Die Argumente sind ausgetauscht, offenbar sehnen sich beide Seiten nach dem Ende eines ermüdenden Wahlkampfes. Aber wer glaubt schon ernsthaft, dass die Diskussion mit dem Wahlergebnis vom Sonntag ein Ende gefunden hat?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false