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Angriff im Stockholm: Eine verletzte Angehörige der westdeutschen Botschaft wird geborgen.

© dpa/Doris S.-Klaas

Terror der Roten Armee Fraktion: „Die Schuld wird mich ein Leben lang begleiten“

Lutz Taufer war Mitglied eines RAF-Kommandos, das zwei Menschen ermordete. Jetzt blickt er in einem Buch zurück.

Sie waren Mitglied der RAF, wegen Mordes in Haft, heute arbeiten Sie in Berlin für den Weltfriedensdienst. Wenn Sie heute Dokumentationen über den Deutschen Herbst 1977 sehen, was geht Ihnen durch den Kopf?

Das ist eine bittere Geschichte, die nie gut und belastbar aufgearbeitet wurde. Auch von unserer Seite, den ehemaligen RAF-Mitgliedern und Gefangenen, nicht. Inzwischen sind alle aus der Haft entlassen, es gibt nicht mehr so viel Kontakte untereinander. Diese Ereignisse 1977 waren für mich ein Einschnitt, sie bedeuteten eine erste Lösung von der Gruppe und der Beginn einer kritischen Haltung gegenüber dem, was wir gemacht haben.

Bei der „Offensive 77“ der RAF wurden unter anderem Generalbundesanwalt Buback und der Bankier Jürgen Ponto erschossen, Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer entführt und später erschossen und eine Lufthansa-Boeing durch Palästinenser mit Billigung der RAF entführt.

Es war deutlich, dass so eine Flugzeugentführung nicht geht. Die RAF hatte bis dahin ja nicht "beliebige Opfer" ausgesucht, sondern Institutionen und Personen, von denen wir glaubten, dass sie eine bedeutende Funktion innerhalb der herrschenden Verhältnisse hatten. Die Mallorca-Urlauber aber waren ganz normale Menschen, wie meine Kolleginnen und Kollegen beim Weltfriedensdienst.

Sie haben mit fünf weiteren RAF-Mitgliedern die westdeutsche Botschaft in Stockholm überfallen, weil Sie inhaftierte RAF-Mitglieder freipressen wollten. Dabei hat Ihr Kommando zwei Geiseln erschossen. Kann man heute jüngeren Menschen erklären, dass die RAF glaubte, sie könnte der Bundesregierung auf Augenhöhe den Krieg erklären?

Ich kann es nicht erklären. Nach dem Tod von Holger meins im Hungerstreik 1974 gegen die Isolationshaft, wollten wir RAF-Gefangene befreien. Das war für uns ein Imperativ, weil wir die damaligen Haftbedingungen als einen staatlichen Vernichtungsangriff gesehen haben. Aber wir haben mit der Aktion in Stockholm ein falsches Zeichen von Härte und Brutalisierung gesetzt. Zwei wehrlose Geiseln wurden erschossen, danach lieferte die RAF ja weitere Hinrichtungen – mit beigefügtem Todesurteil. Wir hätten das sehr viel früher aufarbeiten müssen.

Darum bemühen Sie sich in Ihrem Buch.

Ich will mit meinem Buch die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge aufzeigen. Wir verstanden uns als Teil einer weltweiten Front gegen den US-Imperialismus. Damit waren wir nicht die Einzigen. Es war die Zeit des Kalten Kriegs. In Afrika gab es die anti-kolonialen Befreiungsbewegungen, in Lateinamerika viele Diktaturen, gegen die es Widerstand gab. In der Bundesrepublik gab es noch viele Endmoränen des Faschismus, sichtbar zum Beispiel am 2. Juni 1967, als Benno Ohnesorg von einem Polizisten vorsätzlich erschossen wurde. Wir waren fest davon überzeugt, dass wir die Welt verändern und den Kapitalismus stürzen können. Wir hatten aber bei der RAF kein Programm für die Zukunft. Das war alles sehr verwaschen und undeutlich. Als Linke aus dem Land, in dem es Faschismus und Holocaust gegeben hatte, hätten wir eine andere Sensibilität für den Wert des menschlichen Lebens haben müssen.

Sie arbeiten seit Jahren beim Weltfriedensdienst, sowohl in Brasilien als auch in Deutschland. Ist das ein Versuch, ein wenig die eigene Schuld abzutragen?

Ich bin nicht nach Brasilien, um Schuld abzutragen. Ich bin in die Favelas, die Armengebiete der Großstädte, um das zu tun, was ich inzwischen politisch richtig fand: Menschen zu helfen und zu stärken. Das war eine grundsätzlich andere Orientierung als bei der RAF.

Die RAF, eine eher elitäre Veranstaltung?

So würde ich das nicht sagen. Es gab Vorstellungen zu sozialen Verhältnissen, aber die wurden nicht umgesetzt. In den Favelas hatte ich mit Menschen zu tun, denen seit Generationen gesagt wurde: Ihr seid blöd und kriminell und benötigt jemanden, der sagt, wo es langgeht. Um das zu ändern, habe ich dort gearbeitet. wir haben ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich und ihre individuellen und kollektiven Fähigkeiten zu entdecken.

Und? Konnten Sie Ihre Ideen verwirklichen?

Ich habe in Projekten der kommunalen Entwicklung gearbeitet. In Armensiedlungen mit einer Million Einwohnern habe ich mich mit Berufsbildung und dem Aufbau von Kooperativen beschäftigt. Wir haben Berufsvermittlungen aufgebaut, Bewerbungstraining gemacht, Kontakte zu Unternehmen hergestellt. Wir haben Maurer, Fliesenleger oder Schneiderinnen und Frisörinnen ausbilden oder qualifizieren lassen, damit die Frauen auch zu Hause arbeiten können. Viele von ihnen sind ja alleinerziehend und finden für ihre Kinder keine Betreuung. Wir haben auch Computerkurse gemacht, das war ganz wichtig. Der Zugang zum Internet hat den engen Horizont, nicht zuletzt durch die prekäre Schulbildung, etwas erweitert.

Wussten die Menschen, mit denen Sie in Brasilien zusammengearbeitet haben, über ihre Vergangenheit Bescheid?

Ja. Aber meine Geschichte als ehemaliges RAF-Mitglied spielte in der Favela keine Rolle. Mir war wichtig, dass ich Anerkennung für meine Arbeit gefunden habe. Die Menschen in den Favelas wollen alles, bloß keine Gewalt. Und für Gewalt sorgen dort nicht bloß Drogenhändler, sondern auch die Polizei.

Sie saßen jahrelang in sogenannter Isolationshaft. Hatten Sie dadurch Probleme in der Kommunikation?

Ich bin durch die Isolationserfahrungen ein großer Anhänger von Kommunikation geworden. Das hat auch eine große Bedeutung bei der Prävention von Konflikten. In Brasilien gibt eine sehr offene und freundliche Kommunikation, aber es gibt auch viel Gewalt. Oft fehlen Strategien und Rollenvorstellungen für eine gewaltfreie Konfliktlösung.

Sie glaubten in den 70er-Jahren auch, dass Sie in der Bundesrepublik nur mit dem bewaffneten Kampf weiterkommen. Glauben Sie heute immer noch, dass die damalige gesellschaftliche Situation im Land den bewaffneten Kampf rechtfertigte?

Wir glaubten, er sei gerechtfertigt. In der ersten Phase der RAF gab es auch viele Menschen in der Linken, die uns unterstützten. Hans-Christian Ströbele, der heutige Grünen-Politiker, hat später auf einer Veranstaltung gesagt, er kenne viele, die heute in hohen Ämtern seien und damals losfuhren, um Waffen zu besorgen. Sie haben die nicht benützt, aber so war die Stimmung. Die Bundesregierung hatte Diktaturen unterstützt und mit Waffen beliefert. Die Revolutionserwartung, die wir hatten, gab es nicht nur bei der RAF, die war auch gespeist aus diesem internationalen Kontext.

Aber die Unterstützung der RAF ließ nach Bomben und Toten sehr schnell nach.

1973 hörte die Unterstützung in Deutschland auf, dafür entstanden Bewegungen, die nicht mehr diesen internationalistischen Schwerpunkt hatten, Anti-AKW- und Friedensbewegung, Hausbesetzer. Sie reagierten auf die Entwicklungen in Deutschland. Wir bei der RAF dagegen glaubten, in einer Front mit Befreiungsbewegungen der Dritten Welt verbunden zu sein. Dass Krieg auch Sterben bedeutet, haben wir nicht reflektiert. Wir sahen nur diese Bauernarmee in Vietnam, die auf Sandalen und mit Strohhüten die mächtigste Militärmaschine der Welt, die USA, in die Defensive drängte.

Die RAF war so sehr im Tunnelblick, dass sie die neuen gesellschaftlichen Initiativen nicht wirklich registrierte?

Na, so abgekapselt waren wir nicht. Es gab ja viele Anti-Folter-Komitees, die gegen die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen kämpften. Es gab die Tendenz zur Distanzierung zur Gewalt der RAF, aber gleichzeitig wurde der Kampf der Gefangenen unterstützt.

Und wie haben Sie auf die neuen Bewegungen reagiert?

Ich habe innerhalb der RAF nach der Entführung der Boeing gesagt: Leute, es sind neue Bewegungen entstanden, ihr müsst mit denen diskutieren. Es geht nicht, dass ihr meint, alles allein bestimmen zu können. Aber tatsächlich hat die RAF den Fehler gemacht, dass sie weiter Anschläge und Attentate verübt hat, ohne die veränderte Situation zu berücksichtigen.

Durch ihre Kritik galten Sie bei den RAF-Hardlinern als Verräter.

Als Abweichler. Ich fühlte mich verantwortlich dafür, dass die falsche Entwicklung geändert wird. Ich habe Anfang der 80er Jahre in der Isolationshaft einen Selbstmord-Versuch gemacht und mir die Pulsadern aufgeschnitten. Danach wusste ich, dass ich weiterleben will, aber anders als bisher. Ich habe irrsinnig viele Briefe geschrieben, jeweils mit Blaupapier-Durchschlag.

Sie saßen auch in Haft, weil zwei Geiseln erschossen wurden. Haben Sie etwa damit gerechnet, dass die Attacke auf die Botschaft ohne große Gewalt abgeht und die Bundesregierung der Freilassungsforderung nachgibt? Oder haben sie von vornherein geplant, Geiseln zu erschießen, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen?

Wir haben natürlich gehofft, dass es gut geht. Es war einer unserer Fehler, dass wir mit der Erschießung von Geiseln drohten. Damit setzten wir uns unter Zugzwang. In meinem Buch schreibe ich: Die Tötung von zwei Geiseln auf grausame Weise, für die ich mitverantwortlich bin, war ein Verbrechen. Das stand am Ende meines Weges, zu mir selbst zu kommen. Dazu habe ich lange gebraucht.

Nach Stockholm haben Sie sogar davon gesprochen, dass es eine militärische Niederlage, aber ein politischer Sieg gewesen sei.

Ja, ich habe lange verdrängt, dass ich das geschrieben habe.

Der Sohn des in der Botschaft erschossenen Militärattachés Andreas von Mirbach möchte gerne wissen, warum die RAF seinen Vater ausgesucht habt. Haben Sie darauf eine Antwort?

Er war Militärattache, er war für uns in besonderer Weise ein Vertreter der imperialistischen Macht. Aber es war nicht gerechtfertigt, ihn als Geisel zu erschießen.

Heinz Hillegaart, die zweite erschossene Geisel, war bloß ein 64-jähriger Wirtschaftsattaché, er hatte mit militärischer Macht nichts zu tun.

Die Militär- und Wirtschaftsattachés waren einfach Funktionsträger in diesem ideologischen Gebäude, das wir mit uns herumgeschleppt haben.

Sie haben auch geschrieben: Die Ermordung von Geiseln zerstört irreparabel die Hoffnung auf eine bessere Welt und auch den Kampf um eine humanitäre Welt. Sind Sie sich in der Rückschau selber fremd?

Ich erkenne mich in dem damaligen Denken und Handeln schon wieder. Heute würde ich natürlich keine Geiseln erschießen oder überhaupt Gewalt gegen Menschen anwenden. Aber damals habe ICH so gehandelt. Ich war kein Verführter. Ich habe diesen Überfall mit vorangetrieben. Ich war als Vorauskommando in Schweden und habe eine Wohnung gemietet. Und ich muss sagen, dass ich mit voller Kraft und vollem Engagement auf diese Aktion hingearbeitet habe, weil ich die Gefangenen befreien wollte.

Sie haben sich theoretisch mit der Revolution, aber auch mit dem Überfall in Stockholm auseinandergesetzt. Aber plötzlich liegt in der Realität eine tote Geisel vor Ihnen. Erschossen von Ihrem Kommando. Wie sehr hat sich dadurch Ihre Gefühlslage plötzlich verändert?

Wenn ich darauf antworten würde, dann würde ich auch auf diese zwölf Stunden in der Botschaft eingehen. Und das will und werde ich nicht tun.

Sie haben nie erzählt, wer zum Beispiel Andreas von Mirbach erschossen hat oder Heinz Hillegaart. Warum nicht?

Wir haben alle die gleiche Verantwortung. Wenn ich anfangen würde zu erzählen, wer was gemacht hat, könnte man Rückschlüsse von mir auf andere ziehen.

Was wäre nach 42 Jahren so schlimm daran?

Ich will darüber nicht sprechen.

Das ist immer noch eine Form von Solidarität mit der RAF.

Nicht mit der RAF, aber ich kann jetzt nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Das ist einfach eine Übereinkunft.

Werden Sie von den Bildern von damals eingeholt?

Mir geht nicht das Bild der brennenden Botschaft durch den Kopf, aber ich weiß, dass ich Schuld auf mich geladen habe, die mich ein Leben lang begleiten wird. In dieser Gefühlsmenge gibt es natürlich auch Dinge, die man mit Worten nicht erklären kann.

In ihrem Buch schreiben Sie: Es gibt nicht nur Grenzen, die überschritten werden müssen, es gibt auch Grenzen, die respektiert werden müssen.

Genau diesen Punkt hat das Kommando von Stockholm nicht ausreichend beachtet. Wir haben nicht ausreichend über uns selber nachgedacht.

Welche Grenzen?

In jedem politischen Handeln muss die menschlichere und gerechtere Welt, für die wir kämpfen, erkennbar sein.

Am 20. April 1998 gab die RAF ihre Selbstauflösung bekannt. Was ging Ihnen da durch den Kopf?

Ich habe gedacht, es hätte früher kommen müssen. Die RAF war ja vorher schon tot.

Lutz Taufer war Mitglied eines RAF-Kommandos.
Lutz Taufer war Mitglied eines RAF-Kommandos.

© Gerd Nowakowski

Das Buch von Lutz Taufer „Über Grenzen – vom Untergrund in die Favela“ (Assoziation A, 288 S., 19,80 €) wird vorgestellt am 19. Juni um 19.30 Uhr im Haus der Demokratie und Menschenrechte in der Greifswalder Straße 4, Prenzlauer Berg.

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