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Das Berliner Telefonbuch zählt knapp 30 Eintragungen unter den Namen Kuss oder Kuß und zudem eine „Kiss-Akademie“.

© Lars von Törne

Tag des Kusses: Die Geschichte des Kusses in Berlin

Die Hauptstadt kann auf eine lange Knutschtradition zurückblicken. Eine Kulturgeschichte vom sozialistischen Bruderkuss bis zum Radiosender „Kiss FM“.

Im Fotografenpulk gleich zwei Prominente, noch dazu in einem besonderen Moment, fotografieren zu müssen, ist kein Vergnügen. Da wird gedrängelt und geschoben, um den besten Platz zu ergattern. Régis Bossu, Fotograf der französischen Agentur Sygma, hatte an jenem 4. Oktober 1979 im Saal des Schlosses Niederschönhausen leider Pech, sah sich an den Rand gedrängt, als Erich Honecker und Leonid Breshnew den Raum betraten. Notgedrungen griff er zum Teleobjektiv, und als die beiden Politiker – zusammengekommen, um den 30. Jahrestag der DDR zu feiern – sich zum sozialistischen Bruderkuss einander zuneigten, drückte er auf den Auslöser.

Als „Le Baiser“ wurde das Foto in alle Welt geschickt und dort unzählige Male abgedruckt, machte gut zehn Jahre später aber, und nun besonders in Berlin, erst richtig Karriere. Der russische Maler Dimitri Wrubel hatte es als Vorlage für seinen Beitrag zur Bemalung der Mauer an der Mühlenstraße in Friedrichhain gewählt, die längst als East Side Gallery zu einer der meistfotografierten Attraktionen der Stadt aufgestiegen ist, mit Wrubels Kuss als unbestrittenem Mittelpunkt.

So hat auch Berlin seinen ikonografischen Kuss bekommen – nun fast auf einer Höhe mit Paris, der Hauptstadt der Liebe, wo der Fotograf Robert Doisneau 1950 vor dem Rathaus ein küssendes Paar fotografierte, oder New York, wo Alfred Eisenstaedt am 14. August 1945 auf dem Times Square einen Marinesoldaten und eine Krankenschwester ablichtete, beide im Freudentaumel über das Ende des Krieges. Berlin dagegen: zwei alternde Politiker bei der Demonstration ihrer brüderlichen Verbundenheit, propagandistisches Lippenbekenntnis statt purer Lebenslust.

51 Prozent der deutschen halten sich für gute Küsser

Dennoch, betrachtet man an diesem Donnerstag, dem internationalen Tag des Kusses, diese Form des zwischenmenschlichen Kontaktes aus besonderer Berliner Perspektive, so kommt schon einiges Schönes zusammen. Natürlich wird auch hier, wie anderswo auf der Welt, unentwegt geküsst, geknutscht, gebusselt, während der sozialistische Bruderkuss, jedenfalls der leibhaftige, doch etwas in den Hintergrund gerückt ist. Auch ist kaum wahrscheinlich, dass Berlin bezüglich der Kuss-Praxis vom Bundesdurchschnitt signifikant abweicht. Und nach dem halten sich 51 Prozent der Deutschen für gute oder sogar sehr gute Küsser, und 67 Prozent ist es wichtig, dass der Partner oder die Partnerin gut küssen kann. Sogar die als richtig empfundene Kuss-Länge haben das Markt- und Sozialforschungsinstitut Sinus in Heidelberg und das weltweite Marktforschungsinstitut YouGov in einer aktuellen Online-Studie untersucht: Mindestens elf Sekunden, meinen 58 Prozent der Befragten.

Aber hier soll es nicht um den gesamtdeutschen Alltagskuss gehen, vielmehr um besondere Küsse, einzeln oder in Serie, die öffentliche Aufmerksamkeit erregten oder soeben erregen. Zum Beispiel im Bröhan-Museum, wo derzeit die Ausstellung „Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan“ läuft und seit Montag eine den simplen Kuss zur physischen Sonderleistung erhebenden Installationsperformance mit Titel „Emotion in Motion“ läuft. Die in der Türkei geborene Künstlerin Nezaket Ekici hat sich vorgenommen, einen ansonsten kunstfreien Raum in der Ausstellung mit ihren Küssen zu bedecken, die weißen Wände und Möbel, selbst den Fußboden, sodass mittels ihrer Lippenstiftabdrücke ein „ornamental anmutendes dreidimensionales KussBild“ entsteht, eine „Reflexion über das Glück und die Schmerzen der Liebe“, wie das Museum erläutert. Doch hat die Aktion auch eine logistische Seite: Das Lippenrot muss regelmäßig aufgefrischt werden, mindestens 18 Lippenstifte, so die Erwartung der Künstlerin, werden dabei verarbeitet. Man kann ihr während der auf die regulären Öffnungszeiten beschränkten und an diesem Kuss-Donnerstag zwischen 18 und 19 Uhr endenden Performance zusehen, kurz danach sind die Besucher selbst zu einem „Kiss me“ betitelten Flashmob aufgerufen.

Küssen kann man natürlich auch anderswo, und es gibt auf Berlin.de, dem „offiziellen Hauptstadtportal“, sogar „Die 12 besten Orte zum Knutschen“. Die Auswahl ist freilich sehr speziell. Die Museumsinsel, schon weil sich Kunst und Küssen fast reimen, das mag noch angehen. Aber ein „Kuss im freien Fall – für Wagemutige“ vom Dach des Park Inn Hotels am Alexanderplatz beschert zwar garantiert den erwünschten, bei romantischen Küssen vielleicht ausbleibenden Adrenalinrausch, endet aber garantiert final. Dann schon lieber ein Konzert der Hardrocker von Kiss, zuletzt 2015 und auch davor schon wiederholt in Berlin. Und zur Einstimmung vielleicht ein Fläschchen „Berliner Kuss“, laut Eigenwerbung „der erfrischend rote Wodka Feige Shot für Berlin“.

Knapp 30 Berliner hören auf den Namen "Kuss"

Solches Vergnügen ist jedoch nur kurz, die Flasche bald leer, während im Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen an der Tiergartener Ebertstraße, nicht weit vom Holocaust-Mahnmal, unentwegt geküsst wird. Hinter einer Glasscheibe läuft in Endlosschleife ein Video mit Küssen in Serie, Männerpaare, Frauenpaare, Junge, Alte, ganz wie’s beliebt.

Im Berliner Telefonbuch gibt es knapp 30 Eintragungen unter den Namen Kuss oder Kuß, und sogar eine KissAkademie ist in der Stadt ansässig, hinter der sich allerdings keine Schule für Liebesdinge verbirgt, vielmehr der Berliner Ableger eines juristischen Repetitoriums, gegründet von einem Hamburger Rechtsanwalt namens Henning Kiss. Es gibt seit 1993 den Radiosender 98.8 Kiss FM, laut Eingenbeschreibung „Der Beat von Berlin“ und mit sehr rotem Kussmund im Namenslogo. Und es gibt Kiss by Fiona Bennett, eine Produktlinie der bekannten Berliner Hutdesignerin, wie auch das Lippenstiftmuseum des Visagisten René Koch in der Helmstedter Straße 16 in Wilmersdorf, der aktuell dazu aufruft, auf der Lotto-Facebook-Seite „ZumGlückBerliner“originelle Kussfotos zu posten.

Alteingesessenen West-Berlinern ist noch der Titel der Musikrevue „Das Küssen macht so gut wie kein Geräusch“ im Gedächtnis, mit dem das Kleine Theater am Südwestkorso in Friedenau von 1986 bis in die frühen Neunziger sehr erfolgreich war. Und der unmittelbar nach der Luftbrücke von Regisseur George Seaton gedrehte Spielfilm „The Big Lift“ kam unter dem das Politische ins Private verschiebenden Titel „Es begann mit einem Kuss“ in die Deutschen Kinos. Allerdings endete es nicht mit einem solchen: Sgt. Danny MacCulluogh, gespielt von Montgomery Clift, kommt zuletzt doch darauf, dass sein Berliner Mädel ihn nur benutzt, um in die Staaten zu kommen.

Überhaupt das Berliner Kino und die dort, live und auf der Leinwand ausgetauschten Küsse: Gleich in Serie hatte Franz Stadler, damals Betreiber des Filmkunst 66 in der Charlottenburger Bleibtreustraße, sie zusammengeschnitten, zur Feier der Wiedereröffnung seines Kinos 1985. Wenn die Erinnerung nicht trügt, war auch eine Szene aus „Casablanca“ dabei. Ein Requisit aus dem Film gelangte sogar 1995 nach Berlin, als Teil der Ausstellung „Kino – Movie – Cinema“ im Martin-Gropius-Bau: das Klavier aus Rick’s Café. Ein Instrument von bescheidenen Ausmaßen, wie die Besucher erstaunt registrierten. Aber was für unvergessliche Liedzeilen waren damit begleitet worden:

„You must remember this,

A kiss is still a kiss,

A sigh is just a sigh.

The fundamental things apply

As time goes by.“

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