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Käthe Kollwitz im Blick. Ein paar Meter nördlich von hier wohnt in Günter Grass’ Roman „Ein weites Feld“ die Hauptfigur.

© Kitty Kleist-Heinrich

Spurensuche in Prenzlauer Berg: Günter Grass und der Kollwitzplatz: Ein weites Feld

Vor 20 Jahren beschrieb Günter Grass die Veränderungen rund um den Kollwitzplatz nach dem Mauerfall. Wir haben uns auf die Spuren des Schriftstellers in Prenzlauer Berg begeben.

Ach, Günter Grass, du lokalpatriotischer Literat: Früher, als Tante Pinchen hier wohnte, war alles anders, und auch heute, zu fortgeschritteneren kapitalistischen Zeiten als damals, 1990, ist die Gegenwart unvergleichlich mit dem, was Deine Protagonisten im Mietshaus Kollwitzstraße 75 zu Umbruchzeiten erlebt haben. Vormittägliche Recherchen führen uns, aus traurigem Anlass, in die Gegend rund um Deine geistesverwandte Käthe, und nur sie ist so geblieben, wie sie immer war auf ihrem Sockel – alles andere hat sich seit dem „Weiten Feld“, diesem Roman des Umbruchs aller Ansichten von Straßen, Häusern und Plätzen, so verändert, dass recht eigentlich ein neues Buch fällig wäre.

Das Gebäude Kollwitzstraße 75 besticht noch immer durch seine großzügige Architektur und die Höhe der Räume; ein halber kraftvoller Kerl (links) und seine barbusige Gefährtin/Frau/Geliebte/Leidensgenossin (rechts) tragen den Balkon im ersten Stock. Sie haben die Renovierung des Hauses schadlos überstanden, kein brüchiger Putz bewahrt heuer versunkene Schriften von Kohlenhändlern, Flickschustern oder Tante- Emma-Läden: Die Wucht der Wendeflut, eine Art Tsunami der neuen Zeit, hat sie alle fortgeschwemmt. Innerlich sind aus ihnen Büros geworden, junge Menschen sitzen an ihren Laptops und verlassen sie hin und wieder gern, weil ihnen eine Zigarettenlänge wohltuender scheint als die Kellerperspektive.

Bio-Mode statt Kohle-Lieferungen

Ein Laden heißt „Salonmeister“ und vermittelt Friseurtermine, ein anderer versendet en Gros Tee, zwischen den Start-ups von heute und dem Schuster von vorgestern hatten, wie überall in Prenzlauer Berg, junge Leute die leeren Höhlen und Hüllen besetzt und als Wohnungen okkupiert, Gott weiß, wie viele Kinder hier gemacht wurden. Heute fahren die Mütter vom Kollwitzplatz stolz mit ihren Kinderwagen, so geräumig wie Kleinautos, zum nächsten Café Latte, und reden über Bio-Mode statt über Kohlenanlieferung.

Mitte der neunziger Jahre wurde die Kollwitz 75 renoviert, das heißt, sie wurde grau angepinselt. Und erhielt ein neues Dachgeschoss. 21 Familien wohnen hier, sagt das Klingelbrett, am längsten wohl Katrin Strehmann. Sie kann sich noch an einen Gemüseladen im Kellergeschoss erinnern, ansonsten sei in der ganzen Gegend „alles grau und mit Brettern vernagelt gewesen“. Dass G.G. „ihr“ Haus literarisch verewigt hat ist ihr neu, „Grass ist nicht so mein Fall“. Da geht das breite Tor auf und Tochter Lisa kommt mit Telma und Elyas auf den Hof. Hier standen einst garagenähnliche Buden, das Terrain war asphaltiert – statt Beton liegt nun, wie bei Kaisers, Kopfsteinpflaster zwischen schütterem Gras. Es riecht nach altem Laub, eine mädchenhafte Zierfigur hat sich auf einen kleinen Brunnen gestellt, aus dem zwei Tauben trinken, und nebenan steht unverwüstlich die Kastanie und zeigt die Jahreszeiten an. Ein Grill lockt die Hausgemeinschaft zum Steak beim Bier ins Freie: „Manchmal ist das dann wie früher“.

Die ersten West-Mieter sind nun selbst Gentrifizierungs-Opfer

Lisa Strehmann, die Politikwissenschaftlerin, die hier in der Etage, die Grass beschreibt, aufgewachsen ist, findet den Hof geradezu romantisch: Ein Großstadtidyll, das versucht, seinen Charakter zu bewahren. Freilich merkt man allein an den teuren Autos, wie sich der Kiez verändert. Nicht nur zum Nachteil: „Hier ist es sehr angenehm zu leben“.

Die 1995 von Günter Grass liebevoll beschriebene Kastanie steht immer noch im Hof des Hauses Nummer 75. Drehbuchautor Detlef Wittenberg wohnt seit 1992 hier.
Die 1995 von Günter Grass liebevoll beschriebene Kastanie steht immer noch im Hof des Hauses Nummer 75. Drehbuchautor Detlef Wittenberg wohnt seit 1992 hier.

© Kitty Kleist-Heinrich

Und wie ist das mit den Schrippen, die mit den Wecken angeblich im Streit liegen, ja, von ihnen verdrängt werden? Unser G.G. hätte für solch Staubkorn im Rhythmus des Lebens vielleicht nur ein müdes Lächeln, allenfalls einen Zug aus der Pfeife übrig. Wie Detlef Wittenberg aus dem Seitenflügel: Hohe, fast herrschaftliche Räume, Blick ins Grün (Kastanie), aber auch auf die hell sanierten Rückseiten der einstigen Mietskasernen, an denen hier und da sogar Fahrstühle das Leben erleichtern. „Hier fühle ich mich wirklich zuhause“, sagt der 72-jährige Autor, der mit Wim Wenders am Pfefferberg „In weiter Ferne so nah“ gedreht hatte und 1992 aus Kreuzberg in diese Gegend kam, „ich war der erste West-Mieter, aber nun werde ich selbst Opfer der Gentrifizierung“, sagt er. „Schwarze, dicke Autos kann ich nämlich nicht leiden.“ Aber eine Art Glaubenskrieg um die Neu-Berliner auch nicht.

Detlef Wittenberg mochte nicht das Hochglänzende, sondern das Verfallene, Verwilderte, „schließlich war ich Kriegskind“. Und: Er mochte die Bescheidenheit der Leute von Prenzlauer Berg gegenüber den reichen Westlern, die Sitten waren anders, „weil die Leute kein Telefon hatten und statt dessen ein Zettel mit Bleistift an der Tür hing, auf den man seine Mitteilungen schrieb. Das war der Alltag“. Dann kam die Anarchie, und die war riesig. Und die Schwaben sind doch nur Sinnbild für wohlhabende Menschen.

Zwei Häuser weiter sitzt ein junger Mann aus Estland, vor sich ein Schild: „My family was killed by Ninjas, little help for Karate lessons.“ Danke. Ninjas? „Ein Joke. Ich brauche Geld.“ 26 Cent liegen schon in der Mütze.

Ach, noch immer: Ein weites Feld!

Lesen Sie hier einen Auszug aus "Ein weites Feld".

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