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Senioren in Berlin: Wo leben die Alten?

Berlin sieht sich am liebsten so: jung, dynamisch, international. Alte gibt es heute vor allem am Stadtrand. Doch nicht nur dort.

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Berlins Seele sitzt in einem schweren Ledersessel und strickt an einem braungelbblauen Kniestrumpfungetüm. Uralt scheint sie zu sein, aber nicht sonderlich zerbrechlich. Fast wirkt es, als halte sie Audienz. Doch wer sich höflich hinunter beugt, um ein Gespräch zu beginnen, kriegt erst mal einen kalten Waschlappen ins Gesicht. „Heute passt es nicht“, bellt es über den Stricknadeln. Charlotte Hakelberg, 96, testet gerne die Humorfähigkeit ihres Gegenübers. „War nur Spaß.“ Und schon umfasst die große Pranke mit den brüchigen Fingernägeln die weiche Hand des Gasts. So, und jetzt hinsetzen und den Marmorkuchen probieren.

Auf der Suche nach den letzten Ureinwohnern unterwegs im Prenzlauer Berg, im Friedrichshain, in Mitte. Radikal gewandelt haben sich diese Stadtteile in den vergangenen Jahren. Kaum ein Haus, das noch so aussieht wie Anfang der 90er. Kaum ein Quadratmeter, der nicht umgebaut oder verändert wurde. Für die Innenstadtbezirke verzeichnet die Statistik hohe „Außenwanderungsgewinne“ bei zugleich hohen „Binnenwanderungsverlusten“: Neue, meist jüngere Leute kommen von außerhalb der Stadtgrenzen, gleichzeitig werden die Alten in andere, abgelegenere Stadtteile verdrängt.

Damals, weißt du noch... Charlotte Hakelberg (links) und Gerda Ohst haben ihr Leben im Prenzlauer Berg verbracht.
Damals, weißt du noch... Charlotte Hakelberg (links) und Gerda Ohst haben ihr Leben im Prenzlauer Berg verbracht.

© Kitty Kleist-Heinrich

Immerhin, der altmodische Schriftzug über der Tür des Ladenlokals in der Dunckerstraße 78 ist noch da. Herbstlaube. Im klitzekleinen Schaufenster liegen selbstgestrickte Kinderpullover und ein wortkarges Schild: „Auslage kann man kaufen.“ Die Begegnungsstätte für ältere Menschen gibt es seit den frühen 90ern. Mit der Zeit ist sie ziemlich geschrumpft. Weniger Mitglieder, weniger Räume. Nebenan ist vor vier Jahren eine Kita eingezogen, die Plätze für 40 Kinder hat. Die Warteliste ist lang. Die Gegend um den Helmholtzplatz ist im Berliner Bedarfsatlas 2016 mit einer 3+ markiert. Das bedeutet Alarmstufe rot. Hier gibt es viele, viele Kleinkinder und chronisch zu wenig Betreuungsplätze. „Prognostisch steigender Bedarf“ heißt das im Amtsdeutsch.

Die Handarbeitsgruppe, die sich wöchentlich in der Herbstlaube trifft und zu der auch die 96-jährige Charlotte Hakelberg gehört, hat gerade noch eine Handvoll Mitglieder. Leider fehlt jede Woche mindestens eins. Arzttermine, Krankenhausaufenthalte, das Übliche. Die Über-80-Jährigen werden weniger. Und sie machen keinen Krach.

Wahrnehmungslücke zwischen Gründerzeit und Heute

Kein Wunder, dass die Alten weder im Straßen- noch im Selbstbild des Bezirks eine Rolle spielen. In der stilisierten Geschichtsschreibung des Prenzlauer Bergs kommen sie gar nicht vor. Früher? War hier Gründerzeit – daher die schönen Altbauten. Heute ist der Kiez, um es im Maklersprech zu formulieren, ein „lebendiger Trendbezirk“, „ruhig und familiengerecht“, wo „begehrte Wohnlagen“ auf „kreative Umgebung“ treffen. Dazwischen noch die mutige DDR-Bohème Ende der 80er Jahre, auf die die coole Clubszene in den 90ern folgte. Das in dieser Zeit entstandene Image aus Kunst und Rebellion hat sich langfristig als außerordentlich verkaufsfördernd erwiesen.

Der Prenzlauer Berg der Charlotte Hakelberg hat mit diesen Mythen nichts gemein. Sie ist schon 25, als sie mit den Eltern 1945 nach Berlin kommt. Flüchtlinge sind sie, ohne Habseligkeiten und ohne Dach über dem Kopf. Charlotte kommt zunächst bei ihrer Schwester in Eichwalde unter. Sie geht stempeln, schlägt sich mit Kindermädchenjobs durch, arbeitet in einer Streichholzfabrik. „Die Arbeit dort war so hart, dass ich ständig Nasenbluten hatte.“ In den Prenzlauer Berg verschlägt es sie zufällig. Bei der Hochzeit ergattern sie und ihr Mann eine Wohnung in der Kollwitzstraße. In den frühen 50ern muss das gewesen sein, ganz genau weiß sie es nicht mehr. Im Mietvertrag inklusive ist eine Hauswartstelle.

Coworking im Makerspace. In der Herbstlaube in der Dunckerstraße treffen sich Inge Viete und andere Damen zur Handarbeit.
Coworking im Makerspace. In der Herbstlaube in der Dunckerstraße treffen sich Inge Viete und andere Damen zur Handarbeit.

© Kitty Kleist-Heinrich

Montags bis freitags schuftet Charlotte in Schöneweide, in einem Werk für Fernsehelektronik. Sonnabends und sonntags muss sie in der Kollwitzstraße die Treppen putzen. Die Erinnerung daran ist sehr lebendig: „Ich bin bald zugrunde gegangen!“ Eines Tages braucht Charlotte ein neues Scheuertuch. Das alte ist zerlöchert. Sie spricht die Eigentümerin an – die wohnt mit im Haus. „Da guckt die mich an und sagt: Andere Hauswartsfrauen flicken ihre Scheuertücher.“ Solche Sitten sind der stolzen Bauerntochter aus Pommern unbekannt. Der Streit eskaliert, die Hakelbergs kündigen ihre Wohnung – und landen in der nächsten Misere: Im Erdgeschoss der Prenzlauer Allee 195 muss das Paar seine Vorräte mit Ratten teilen. Die Wände sind feucht. „Es war immer kalt.“ Als im Schrank Pilze wachsen, wird die Wohnung vom Amt gesperrt. Das Ehepaar Hakelberg zieht noch einmal um, ein paar Häuser weiter. Hier wohnt Charlotte bis heute. Mit einer Tür zur Dusche direkt von der Küche aus, wie sie zufrieden betont. So hat sie es bei der Sanierung vor 20 Jahren gegen alle Handwerkerempfehlungen durchgesetzt. Einfach so, weil sie es so gewohnt war. Und weiter so haben wollte.

Und heute? Die vielen jungen Familien, die teuren Eigentumswohnungen ringsherum? Schulterzucken in der Herbstlaube. Schön sei sie doch geworden, die Gegend. Dass die Mittagsruhe nicht mehr heilig ist und Lärm durch die Hinterhöfe schallt – was soll’s. Frau Hakelberg hat dazu eine Theorie: „Die Kinder schreien heute mehr als früher.“ Aber zurückschreien? Den Gefallen tut sie ihren Mitmenschen nicht. „Ich mache mir doch nicht die Nerven kaputt.“

Den vollständigen Text lesen Sie am Sonnabend, 17. Dezember 2016, auf Mehr Berlin im gedruckten Tagesspiegel oder im Online-Kiosk Blendle.

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