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Schüler aus allen möglichen Ländern arbeiten bei „Radio multicult.fm“ zusammen und lernen nicht bloß, besser und möglichst akzentuiert Deutsch zu sprechen, sondern können sich zugleich in die Gedankenwelt von Jugendlichen aus anderen Ländern und Kulturen einfühlen. Vorne rechts Brigitta Gabrin, die Chefredakteurin von „Radio multicult.fm“, welche die Idee zu dem Projekt hatte.

© Kai-Uwe Heinrich

Schulprojekt in Berlin-Kreuzberg: Mal im Dirndl, mal im Hijab

Bei einem Projekt von „Radio multicult.fm“ gehen Schüler aus verschiedenen Ländern gemeinsam auf Sendung und lernen Toleranz.

Arabische Musik dröhnt aus den Boxen, Lichtbänder auf dem Boden zeichnen den Catwalk, dann Auftritt: Anna-Lena. Sie stolziert über den Laufsteg, vorbei an den Zuschauern, lächelnd, sehr aufrecht, das Gesicht eingerahmt von einem weinroten Hijab, dem Kopftuch, das eng am Gesicht anliegt, das bis zur Stirn alles abdeckt. Lange, blonde Haare fallen auf ihren Rücken.

Die Moderatorin fragt: „Wie fühlst du dich?“ Anna-Lena, die 16-Jährige aus Süddeutschland, die nie in ihrem Alltag einen Hijab tragen würde, antwortet lächelnd: „Gut, mir gefällt das.“

Dann Auftritt Adiba zu schmissiger Polka. Sie trägt ein Dirndl mit rot-schwarz-kariertem Muster, als wäre sie auf dem Weg zu einem Volksmusik-Fest. Adiba, die 16-Jährige aus Turkmenistan, würde nie im Alltag Dirndl tragen. „Wie fühlst du dich?“ Adiba zieht eine Schnute. Ein langgezogenes „Jaaaa, hm.“ Fünf Sekunden Pause. „Ja, nun.“ Noch Fragen?

Eine Modenschau in den Redaktionsräumen von Radio „multicult.fm“ in der Marheineke-Halle in Kreuzberg, eine Präsentation, bei der sich mit Hilfe von Mode Kulturen verzahnen. An der Wand leuchtet das Motto der Show: „Wir, zwischen Dirndl und Hijab.“

Die Show ist Teil eines Radio- und Schulprojekts. „Youngmedia@global economy“ führt Schüler aus Willkommens- und Regelklassen zusammen, Flüchtlinge und Jugendliche aus gutbürgerlichen deutschen Familien, alle zwischen zwölf und 18 Jahre alt.

Es geht um Radio-Machen und Völkerverständigung

Im Studio lernen sie die Grundbegriffe des Radio-Machens, das ist der handwerkliche Teil. Aber es gibt auch den völkerverständigenden Teil, der entscheidende Punkt, der als Leitlinie über dem Projekt steht. Brigitta Gabrin, Chefredakteurin und Geschäftsführerin von „Radio multicult.fm“ hatte 2015 die Idee zu dem Projekt. „Durch die Begegnungen auf gleicher Augenhöhe, zum Beispiel bei Interviews mit Politikern, geben wir den Schülern und Schülerinnen das Gefühl, in der Gesellschaft gehört zu werden“, sagt sie.

Unter den Zuschauern der Modenschau sitzt Alexandra Treske, Deutschlehrerin an der Ferdinand-Freiligrath-Schule in Kreuzberg. Zehn ihrer Schüler sind in dem Projekt, einige von ihnen gestalten gerade die Modenschau. „Ich begrüße dieses Projekt sehr“, sagt sie. „Hier beschäftigen sich die Schüler mit Themen ,,für die im normalen Unterricht keine Zeit ist.“ Zwei Stunden in der Woche arbeiten sie im Schnitt für das Projekt.

Frauen- und Kinderrechte, Fasten, Ramadan, Schwimmen, IS, das sind Themen, mit denen sich die Schüler auseinandersetzen. Und natürlich Mode. „Mode interessiert alle“, sagt Brigitta Gabrin. Sie stieß eine Diskussion an: „Pro und Kontra Hijab“. Die hitzige Auseinandersetzung wurde live aufgenommen und in einer einstündigen Sendung ausgestrahlt. Da erklärt dann der Afghane Betim: „Ich bin dagegen. Frauen wollen kein Kopftuch tragen, sie müssen es, weil ihre Familie oder ihre Religion es vorschreibt.“ Ahmed, der Syrer, antwortet: „Der Prophet hat gesagt, du musst Hijab tragen. Wenn ich das meiner Tochter zweimal sagen müsste, wäre ich etwas sauer.“ Viele Mädchen in der Runde sind gegen den Hijab. Aber wie es sich anfühlt, die Mode der anderen zu tragen, das ist spannend.

Die Schüler interviewen sich gegenseitig oder Politiker wie den damaligen Bundestags-Abgeordneten Özcan Mutlu von den Grünen, lernen zu recherchieren, Beiträge zu schreiben, Aufnahmen zu schneiden, sie üben akzentuiertes Sprechen, die Älteren moderieren Sendungen.

90 Schüler aus einem halben Dutzend Schulen, Sekundarschulen und Gymnasien, haben bisher an dem Projekt teilgenommen, jede Gruppe mindestens acht Monate lang. Betreut von Dozenten, ehrenamtlichen Helfern und den Lehrern. Viele Helfer sprechen Arabisch oder Farsi.

Die Schüler diskutieren und interviewen sich gegenseitig

Emotionen kommen auf bei den Themen, die sie recherchieren. Und am stärksten bewegte die Schüler das Thema IS. Sie sahen im Grips-Theater „Inside Isis“, die Geschichte des jungen Fabian, der zum IS nach Syrien ging, auch weil er in Deutschland keine Freunde fand. Alexandra Treske, die Lehrerin, hatte zuerst Bedenken. Einer ihrer Schüler hatte in Syrien ein Attentat mit 100 Toten erlebt. Also bereitete sie ihre Schüler auf das Stück vor. Im Theater war es dann sehr still, „aber keiner wollte vorzeitig raus“.

Die Schüler interviewten sich vor Ort gegenseitig über ihre Eindrücke. Fast alle trafen sich anschließend im Studio. Dort gingen die Diskussionen weiter. Und Alexandra Treske stellte fest, dass „sie ihre persönlichen Erlebnisse im Studio aufgearbeitet haben“. Die Aussagen wurden später geschnitten und ausgestrahlt.

Argumente hören, Argumente aufnehmen, eigene Meinungen auch mal ändern, das ist eines der Ziele dieses Projekts. „Die Schüler lernen eine Diskussionskultur“, sagt Alexandra Treske. Und sie lernen andere Kulturen, andere Denkweisen kennen. „Meine Schüler sind sehr interessiert an den verschiedenen Kulturen. Sie möchten wissen, wie es in anderen Ländern zugeht.“ Und natürlich, ein weiterer Aspekt, bedeutsam für die Integration, lernen sie besser Deutsch. Zudem sind sie gezwungen, dieses Deutsch auch verständlich auszusprechen, die Sätze werden ja schließlich ausgestrahlt.

Eigene Erlebnisse, der beste Weg, um Schüler für ein Thema zu begeistern, brachten die Jugendlichen auch bei Kinderrechten ein. Sie setzten sich mit der Kunstaktion „Briefe an die Welt“ auseinander. 3500 äthiopische Schuhputzer hatten ihre Erlebnisse, ihre Gefühle aufgeschrieben. Die Projekt-Teilnehmer lasen sie und befragten sich dann zu ihren eigenen Erlebnissen. Dabei erzählte Mahbun aus Afghanistan, dass er eine Lehre als Friseur gemacht habe. Als Neunjähriger. Mehmed aus Bulgarien antwortete erschüttert: „Ich bin glücklich, dass es in Bulgarien keine Kinderarbeit gibt. Es tut mir leid, dass viele Kinder arbeiten müssen.“ Einige der Briefe haben die Kinder ausgewählt, vorgelesen haben sie dann im Studio die Schauspieler Jürgen Vogel und Benno Fürmann. Eine ganze Stunde Sendezeit widmete das Projekt dann dem Thema Kinderarbeit.

Das Projekt ist gefährdet

Aber das Projekt ist gefährdet. Bis jetzt haben zwei Stiftungen das Ganze finanziert, die PwC-Stiftung ist jetzt planmäßig ausgestiegen. Die Berliner Pfefferwerk-Stiftung zahlt weiter, trotzdem klafft für 2018 eine Lücke von 20 000 Euro. „Im Augenblick arbeiten wir normal weiter“, sagt Brigitta Gabrin. „Aber wenn wir keinen Förderer finden, müssen wir das Projekt wohl beenden.“

Eine Modenschau in den Studioräumen würde es dann nicht mehr geben. Zweifellos ein Verlust. Denn „die Schau finden alles super“, sagt Alexandra Treske. Adibas Schnute beim Dirndl-Auftritt, die solle man nicht überbewerten. „Adiba war die Erste, die gesagt hat: Eine Modenschau? Klar, das machen wir.“

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