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Lehrer und Fußballtrainer. Holger Kraft gibt den Ton an.

© Kitty Heinrich-Kleist

Die Wandlung einer Problemschule: Sport frei – ohne Polizei

Die Julius-Leber-Schule in Reinickendorf hatte regelmäßig Probleme mit schwierigen Schülern. Seit aber ein zusätzliches Sportangebot vorhanden ist, hat einen Wandel eingesetzt.

Die rechte Hand von Holger Kraft hängt gefährlich nahe vor dem Kopf, Zeige- und Mittelfinger sind gespreizt. Ein kurzer Ruck, und er würde direkt in die Augen stechen. Macht er natürlich nicht, es wären ja seine eigenen Augen. Kraft will nur sagen: Hee, Freunde, Augen auf. Wir sind hier ja nicht bei Bayern München. Wer den Ball passt, muss den Mitspieler im Blick haben. „Ein No-Look-Pass, den kann Schweinsteiger.“

Seine Jungs hier können ihn nicht. Seine Jungs sind erst Schüler, sie trainieren auf einem Sportplatz in Reinickendorf, ihre Julius-Leber-Schule ist nur einen Steilpass entfernt. Kraft ist an diesem Nachmittag ihr Trainer, eine Koryphäe, Stützpunkttrainer des Deutschen Fußball-Bunds (DFB). Ansonsten ist er ihr Lehrer an der Leber-Schule. Er ist im Moment nicht allein, zweiter Trainer ist Andreas Weinert vom Frohnauer FC.

Einer der Jungs ist Alexander Popescu, gebürtiger Rumäne, ein schlaksiger Kerl , ein 16-Jähriger mit wachen Augen. „Es gefällt mir hier und an der Schule sehr gut“, sagt er, „es ist schon ein Erlebnis.“

Er war selber auch mal ein Erlebnis, ein sehr spezielles allerdings. „Ein Chaot, frech, ohne Sozialverhalten“, sagt Weinert. „Aber jetzt ist er das beste Beispiel dafür, dass es klappt.“

Sport kann freche, chaotische, sozial auffällige Jugendliche zu motivierten Schülern verändern, das klappt. Alexander Popescu verkörpert ein Experiment. Und seit vier Jahren funktioniert es.

Vor vier Jahren war die Julius-Leber-Schule in Tegel eine Einrichtung mit schwierigen Schülern; die Polizei gehörte zum gewohnten Anblick wie der Hausmeister. „Wir waren eine Zuweisungsschule“, sagt Roger Jungmann, der Schulleiter, „wir hatten nie genügend Anmeldungen, uns wurden immer Schüler vom Schulamt zugewiesen.“ Oft genug Typen vom Schlag eines Alexander.

Wie ändern wir die Problematik? Diese Frage beschäftigte Jungmann und seine Kollegen. Die Antwort: durch zusätzliche Angebote, genauer gesagt mehr Stunden als im Lehrplan vorgesehen im Bereich moderne Medien, vor allem aber im Sport. Die Schule entwickelte sich zur sportbetonten Schule, eine Stufe unter einer reinen Sportschule. In Berlin gibt es davon nur ganz wenige.

Jungmann und seine Kollegen knüpften Kontakte zu Vereinen, zu einem Fitnessstudio. Erster Partner war ein Kanuklub, inzwischen sind auch Tischtennis, Judo und Badminton im Angebot, ergänzt durch Kurse im Studio, Spinning, Jazztanz, Bauch-Beine-Po. Schnell war auch klar, dass auch Fußball als Lockmittel hermusste. Für Jungs und Mädchen.

Und da kommt Kraft ins Spiel, der DFB-Trainer am Stützpunkt Wittenau. Er stieß vor drei Jahren als Lehrer an die Schule, brachte seine Kontakte ein und organisiert das Fußballtraining. Der Frohnauer FC unterstützt die Jungs, der 1. FC Lübars die Mädchen. Nirgendwo sonst in Berlin haben Mädchen an einer normalen Schule so ein Fußballangebot.

Drei Stunden zusätzlicher Sport pro Woche, das ist das Prinzip der Sportbetonung. Und in Jungmanns Büro sitzt neben dem Schulleiter ein bulliger Typ mit breiten Schultern und kantigem Schädel und übersetzt, was das für den Alltag bedeutet. „Früher musste man die Schüler anschieben“, sagt Thomas Seifert, Deutsch- und Sportlehrer, „jetzt kommen die und sagen: Wir sind fertig, was können wir jetzt machen. Es ist eindeutig leichter, jetzt Wissen zu vermitteln.“

Die Anmeldezahlen steigen

Ein Prozess natürlich. Das Sportangebot hat sich herumgesprochen, nun strömen Schüler an die Schule, die im Verein Sport treiben. Die kennen Teamgeist, soziales Verhalten, Rücksicht, die ganze Palette von sozialen Werten, aus ihrem Klub. „Die sind in der Regel positiv gepolt. Ich beobachte, dass die starken Schüler ihre Sachen machen und die Schwachen eher motivieren. Und nicht: Die Schwachen ziehen die Starken runter“, sagt Seifert.

Jungmann blättert in Unterlagen, es geht jetzt um Zahlen. Die Leber-Schule als vierzügige Integrierte Sekundarschule (ISS) hat pro Jahr 100 Schüler im Anmeldeverfahren. Vor fünf Jahren nannten acht bis zehn Schüler die Einrichtung, die damals noch Hauptschule war, als Erstwunsch. Aktuell sind es 46. Und fürs neue Schuljahr sind es schon 52. Die Durchschnittsnote aus der Förderprognose lag im ersten ISS-Jahr bei 3,6. Jetzt bei 3,1. Jungmann sagt auch, dass es noch zu früh ist, ein aussagekräftiges Gesamtfazit zu ziehen, dafür ist die Zeit der Sportbetonung noch zu kurz. „Aber wir haben jetzt Schüler, die anstrengungsbereit sind, das ist ein Riesenvorteil.“

Unterrichtsstunde mit Thomas Seifert, siebte Klasse, Übungsstoff Frühlingsgedichte. 17 Schülerinnen und Schüler sitzen im Raum. Sie arbeiten ruhig und konzentriert. An einem langen Tisch sitzen sechs Jungs nebeneinander, einer davon mit wild gegelten Haaren.

Das Sextett hat nicht zufällig zusammengefunden. Die sechs kamen gemeinsam zur Anmeldung, sie spielen im selben Verein Fußball, sie sind, ohne es zu wissen, Seiferts verlängerter Arm. „Sie geben durch ihre Vereinserfahrung positive Impulse“, sagt der Lehrer. „Sie üben eine soziale Kontrolle aus.“

Für die tiefergehende soziale Kontrolle ist dann einer wie Kraft zuständig. 52 Jungs sind im Fußballtraining, einige davon sind Berliner Auswahlspieler, Leon Dietrich, Torhüter vom Frohnauer FC, zum Beispiel. Vor zwei Jahren kam er an die Schule, weil er Kraft vom Stützpunkt kannte und „hier viel Sport gemacht wird“. Dietrich ist einer von denen, die als Vorbild dienen, heimlich natürlich, alles andere wäre ja peinlich, also bitte. „Ich denke schon, dass der eine oder andere mich bewundert.“

Alexander Popescu, der frühere Chaot, ist ebenfalls ein Talent. Er hat den Ball abgelegt und sagt sehr ernsthaft: „Mein Traum ist es, Profi zu werden. Wenn man ein Ziel hat, gelingt einem vieles.“ Ein Satz wie aus der Motivationsfibel.

Andreas Weinert hat zugehört, aber er kennt den Traum von Alexander ja schon, ihn beeindruckt etwas ganz anderes. „Er ist erst seit sechs Jahren in Deutschland“, sagt er. Und fast triumphierend setzt er dann nach: „Hast du einen Akzent gehört?“ Nein, kein Stück.

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