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Berlin: Rolf Ahrens (Geb. 1953)

„Bleiben Sie oben bei den Kanarienvögeln, aber bitte locker“

Die große Premiere ist wichtig. Es ist die Ernte. Es ist der Beweis, dass man es geschafft hat. Die Frauen und Männer stellen sich in der ehrwürdigen Kirche oder in dem großen Konzertsaal auf, ganz in feierliches Schwarz gekleidet, die Hände zittern vor Aufregung, die Kehlen sind trocken. Im Publikum sitzen die Verwandten, Geliebten und Freunde. Noch einmal rascheln die Sänger mit ihren Notenblättern. Dann blicken sie auf Rolf Ahrens, Chorleiter und Dirigent. Ihren Fels in der Brandung.

Und Rolf sieht zurück, schaut jeden Einzelnen noch einmal an, fest und sicher: Ihr könnt das. Ich vertraue euch. Wir haben monatelang geübt. Ihr müsst nur aufeinander hören und den Rhythmus spüren. Wir machen das jetzt.

Er holt tief Luft, hebt die Arme, Zeigefinger und Daumen aufeinandergelegt, Stille erobert den Raum. Dann gibt er den Einsatz. Die Stimmen erheben sich. Sie vereinen sich zu einem Klang, zu einem Körper, bilden ein musikalisches Muster.

Ja, die große Premiere ist das Ziel. Darauf arbeiten sie alle hin. Doch viel wichtiger ist der Weg. Das ist sein Leben. „Ich erreiche mit meiner Arbeit die Herzen der Menschen. Genau darum geht es mir“, sagte er einmal einer Journalistin. Rolf Ahrens ist Chorleiter und Sänger. Ein Berufsmusiker, der sich entschieden hat, mit Laien zu arbeiten. Er hat mit den Großen gesungen, im Rias-Kammerchor, im Rundfunkchor Berlin. Trainieren wollte er aber nicht die Besten, sondern die Anfänger, deren Stimmen er erst noch formen muss, die vielleicht noch nie in einem Chor gesungen haben, die noch nicht einmal Noten lesen können.

Seine Mutter war Opernsängerin. Fragt man sie nach seinem Leben, merkt man ihren Stolz. Einmal in der Woche hat er sie in ihrem Alterswohnsitz besucht. Dann aßen sie zusammen auf der Dachterrasse und sprachen über die Musik und die Chöre. „Ich war seine größte Kritikerin“, sagt sie. „Ich weiß ja, wie es klingen soll. Einmal habe ich ihm sogar geraten, die Premiere abzusagen. Die Generalprobe war zu schlecht. Aber er hat’s dann trotzdem gemacht und es war grandios. Gut, dass er nicht auf mich gehört hat.“

Es gab eine Zeit, da hat sie sich große Sorgen gemacht. Da studierte er Musik auf Lehramt an der Pädagogischen Hochschule. Er wollte Lehrer werden – und trug lange Haare „und so einen Fusselbart, furchtbar war das. Dann ging er auch noch demonstrieren für so völlig unverständliche Dinge“, erinnert sie sich. Rolf war Studentenvertreter, kritisierte die Gesellschaft und die Professoren. Doch dann machte er eine Erfahrung, die seinen Lebensweg veränderte. Er half bei einem Chor der Fürst Donnersmarck-Stiftung aus. Seine Sänger waren alles Menschen mit Behinderungen. Das hat ihm so viel Energie gegeben, hat ihn so bestätigt, dass er den Lehrerwunsch hinwarf und sich an der Hochschule der Künste bewarb. Gesang und Konzertchor wollte er studieren. Er war 23 und wurde angenommen.

Mal sind es sechs, mal sieben oder acht Chöre und Singekreise, die er in einer Woche leitet, mit denen er Chorfahrten unternimmt, in der Bundesrepublik und im Ausland. Da ist der „Konzertchor Friedenau“, der „Friedenauer FrauenChor“, die „Berliner Singfoniker“, die „Brandenburger Vokalisten“, der „Singkreis fünfzig plusminus“, der „Ruhlsdorfer Singkreis“, „Die rüstigen Chorknaben“ und und und. Nicht singen können, das gibt’s bei ihm nicht. „Die Töne sind sehr schön und richtig, aber Sie singen nicht im Rhythmus. Singen Sie mutig falsch“, sagt er. Viel Geld verdient er als Musikmutmacher nicht. Aber er lebt ja nicht fürs Geld, sondern für die Musik.

Wie macht er das? Was ist sein Trick, dass alle von ihm so begeistert sind? „Er hatte Vertrauen zu einem und gab jedem eine Chance, und das Ganze verbunden mit einer unkomplizierten Lockerheit“, schreibt eine Frau, die 20 Jahre mit ihm sang. Sein feiner, kluger Humor, seine Energie, seine unglaubliche Präsenz, seine sonoren Tenorstimme, die den ganzen Raum ausfüllte. Anderen gefällt, dass er versucht, Bilder für die Töne zu finden, und mit seiner Mimik und Gestik beschreibt, wie sie klingen sollen: „Bleiben Sie oben bei den Kanarienvögeln, aber bitte locker.“

Die Musik hatte immer Vorrang, vor allem anderen. Freundinnen gab es viele. Eine Lebensgefährtin nie. Dafür hatte er keine Zeit. Dafür war er zu sehr auf sich und die Musik fixiert. Streitbar war er, stand zu seiner Meinung, konnte sie lautstark vertreten, auch verletzend. Doch dann hatte er die Courage, sich eine Woche später mit einer Mail an alle zu entschuldigen.

In den letzten Jahren fehlte ihm dann die Energie, irgendetwas stimmte nicht. Vor ein paar Monaten bekam er die Diagnose: Blasenkrebs. Operation, Chemo. Doch im Krankenhaus infizierte er sich mit dem Krankenhauskeim, nach und nach wären seine Organe ausgefallen. Das wollte er nicht. Also beendete er sein Leben, selbstbestimmt, so wie er gelebt hat.

Am 10. Dezember singen sie wieder. Das erste Mal ohne ihn. Die „Berliner Singfoniker“ in der Herz-Jesu-Kirche in Alt-Lietzow, 16 Uhr. Karl Grünberg

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