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Berlin: Richard Heß (Geb. 1937)

Bevor ich abstrahiere, muss ich wissen, wovon ich abstrahiere

Raus aus den Räumen“, ruft er den Studenten seiner Bildhauerklasse zu, „raus in die Natur, zu Naturstudien! Abstrahieren können sie später immer noch, jetzt beschäftigen wir uns erst einmal mit der handwerklichen Seite der Sache.“

Also raus, auf die Feldwege, die Felder, die Wiesen, und blieben sie im Raum, hieß das keineswegs, dass sie die Natur nicht studierten. Richard Heß hatte ein Aktmodell bestellt, denn die studentischen Kenntnisse über den menschlichen Körper hielten sich in Grenzen. Was nicht allein an den Schülern lag, sondern an der Losung der Zeit: Schmeißt allen Realismus über Bord, arbeitet abstrakt. Der Nazistumpfsinn lag nur wenige Jahre zurück, man wollte sich ein für alle Mal von verkitschten Landschaftsabbildungen, heroischen Übermensch-Darstellungen befreien. Doch, beharrte Richard Heß, löst sich die Natur ja nicht in Luft auf, von ihr und in ihr kann man so viel lernen, Proportionen, Linienführung, das Spiel von Licht und Schatten, das Schöne, die Abgründe. Bevor ich abstrahiere, muss ich erst einmal wissen, wovon ich abstrahiere.

Für seine Überzeugung nahm er hin, von einigen Kollegen und Kritikern als reaktionär abgestempelt zu werden. Realismus, ein Schmähwort, der bevorzugte Stil in Diktaturen. Dabei war es Unsinn, Richard Heß als Realisten zu bezeichnen. Er kopierte die Natur ja nicht. Er weigerte sich lediglich, auf das Figürliche, Gegenständliche in seinen Plastiken zu verzichten. Für seine Naturbeobachtungen setzte er sich nicht mit einem Skizzenblock ins Freie. Er lief, ohne Block, dafür mit Blick, durch die Welt, zeichnete die Figuren gewissermaßen in seinem Kopf, bevor er sie im Atelier skizzierte und modellierte. Die Spaghetti-Esserin zum Beispiel, entdeckt in irgendeiner Autobahnraststätte: eine üppige Hungrige, die Nudeln in sich hineinschlingt, die Nudeln liegen neben dem Teller, hängen an ihrem Mund. Die in Bronze gegossene Figur hat dann selbst Haare aus Nudeln. Oder die „Sitzende mit durchsichtiger Bluse“, eine Schöne in Bleistiftrock, mit hübschem Busen und schwellenden Brustwarzen, es scheint sich um eine Des-Kaisers-neue-Kleider-Bluse zu handeln. Die „Frau beim Arzt III“, wieder schmaler Rock, jetzt aber ausgelaugte Brüste, knotige Beine, besorgter Blick. Eine ganze Welt erzählt in einem Menschen.

Immer wieder Frauen. Weiche, voluminöse Rundungen, Kraft, Vitalität, zumeist, aber auch gebrochene Kraft, Erschöpfung. Seine Männer sind fast immer kantig, knochig, trübselig. Der „Einsame Trinker“: ein kahlköpfiger, vor sich hin Starrender, der ein Glas umklammert; ein auf ein Rad gespannter; der Heilige Sebastian, liegend, der Blick wehmütig, die Brust von Lanzen durchbohrt. Daneben aber auch sein David, der seit 1982 mitten auf der reichen Frankfurter Zeil nackt, breitbeinig, behelmt und mit Steinschleuder in der Hand auf dem Kopf des getöteten Goliath sitzt. Manche protestierten gegen diese Art der Kunst, die an Schlachten zwischen Demonstranten und Polizei erinnert. Heute wirbt Frankfurt auf Prospekten mit der Skulptur.

144 seiner Objekte befinden sich im öffentlichen Raum, Gequälte, Quälende, Träumende, Paare, Heilige, in deutschen Städten und in italienischen, denn in Italien hat er deutlich mehr Bewunderer. Sie haben dort einen anderen Kunstbegriff, figurativ oder abstrakt, das ist keinMaßstab, Talent und Güte zählen, die Künstler entscheiden, was Kunst ist, nicht Kunstkritiker. In Deutschland haben sie ihn eher verschwiegen. Die Italiener stellten ihn aus, sammelten ihn, luden ihn ein zur Biennale in Venedig, die großen Figuren stehen allesamt in Italien, das er liebte, unabhängig vom Erfolg, das Licht, das Meer, das Essen, das Nicht-Deutsche.

Gleichwohl war ihm der Kunstbetrieb herzlich egal, von diplomatischen Tönen hielt er ohnehin nicht viel, er wollte in seinem Atelier stehen und arbeiten, Punkt. Das galt auch zu Hause; Schöpfertum ist nichts für den Abendbrottisch. „Gib Acht auf die saubere Hose, das gebügelte Hemd“, sagte seine Frau am Morgen, „Jaja“, antwortete er und lief ins Atelier, in dem eine alte Hose, ein altes Hemd hingen, kam zum Mittag, Gipskrümel überall, an den Händen, an der sauberen Hose, am gebügelten Hemd.

Es war ihm immer das Selbstverständlichste gewesen, schon als Kind: Bildhauer werden. Weshalb er sich Knetmasse kaufte, in den Zoologischen Garten fuhr und die Tiere formte. Er wollte das Dreidimensionale abbilden. Doch dann, im Alter, entzündete sich sein Sehnerv, die Welt wurde zweidimensional. Radikal zog er die Konsequenz: gab die Bildhauerei auf, bis zu seinem Tod.

Aber wir, die wir noch da sind und sehen, können zum Hackeschen Markt, zur Philharmonie, nach Darmstadt, Bremen, San Gimignano, Verona fahren, die „Große Dame im Abendkleid“, Hans von Bülows Kopf, die „Kleine Dame im Abendkleid“, den „Geschundenen“, die „Trunkenheit Noahs“ und „Schwester Mond“ von allen Seiten betrachten.

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