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Hand in Hand. Michael Grunow und Carlos Puig sind mit den Jungen aufs Land gezogen. Eine Adoption ist für homosexuelle Paare in Deutschland fast aussichtslos. Ohne sie hätten viele Pflegekinder in Berlin aber kein Zuhause.

© Laubmeier

Wenn schwule Männer Eltern werden: Väter sein dagegen sehr

Der eine heißt Papi. Der andere Papa. Das wissen in der Kita jetzt alle Kinder. Michael Grunow und Carlos Puig sind schwul, sie leben mit ihren Söhnen im Norden von Berlin. Alles läuft gut – gäbe es da nicht diese letzte Ungewissheit.

Einmal hätte Michael Grunow es fast selbst geglaubt. Kurz vor Weihnachten, Freunde seiner Söhne Frederico und Felix waren mit ihren Eltern zum Adventskaffee da. Und Felix fragte, was Fünfjährige eben so fragen. „Küsst eigentlich der Nikolaus den Weihnachtsmann?“ Kinderlogik – ein Witz beim nächsten Elterntreffen, normalerweise.

Michael Grunow aber erschrak, schaute verstohlen zu seinem Partner Carlos Puig hinüber und dachte: „Oh Gott, was denken die, was für eine Weihnachtsgeschichte wir unseren Kindern erzählen?“ Ganz kurz ließ er die Frage zu, ob der küssende Nikolaus der Beweis dafür sei, dass er und sein Freund doch einen schlechten Einfluss ausüben. Natürlich Unsinn. Die befreundeten Eltern dachten sich gar nichts. Und heute lacht Grunow, wenn er über dieses Erlebnis spricht, lacht über sich und seine Angst.

Die beiden Männer, 40 und 44 Jahre alt, sitzen im Wohnzimmer, auf einem ausladenden Sofa. Carlos Puig trägt ein T-Shirt mit Mickeymausmuster, Michael Grunow ein Fleecepulli, wie ihn Väter tragen, denen ihre Kinder und Funktionalität wichtiger sind als der eigene Modegeschmack. Das Paar ist mit den Söhnen in den Norden Berlins gezogen, lebt seit 2013 im Neubaugebiet einer Kleinstadt. Es ist eine kinderfreundliche Gegend, hierher ziehen Familien, die ihr Leben in die Hand nehmen wollen, jedes Haus ist farbiger Ausdruck von individueller Lebensplanung, Selbstverwirklichung. Carlos und Michaels Haus liegt an einer Kurve, ein kleiner, lilafarbener Bungalow mit Auffahrt und einem Garten, der an unbebaute Landschaft angrenzt.

Wenn Michael Grunow und Carlos Puig* von ihren Jungen erzählen, werden ihre Gesten groß. Frederico, der Jüngere, ist gerade zwei geworden und wirkt mit seinen blauen Augen und braunen Wuschelhaaren dauergutgelaunt. Der blonde Felix, der die Welt skeptischer beobachtet, wird bald sechs. Die Lieblingsthemen der beiden im Moment: Feuerwehr, Autos und der Animationsfilm Cars. Michael nennen sie Papa, Carlos ist Papi. Beide arbeiten, die Kindererziehung teilen sie untereinander auf. Anfeindungen dafür, dass sie eine Väterfamilie sind, als schwules Paar Kinder großziehen, hätten sie noch nie erfahren. Alles normal also? Nicht ganz.

Als Pflegeeltern sind gleichgeschlechtliche Paare heiß begehrt

Das Thema gleichgeschlechtliche Paare und Kinder ist konfliktgeladen, bis heute trauen es vor allem in der Politik viele Schwulen und Lesben nicht zu, Kinder großzuziehen. Noch 2013 sagte Angela Merkel, dass ihr beim Gedanken an Adoptionen unwohl sei. „Ich bin unsicher, was das Kindeswohl anbelangt.“ Die Berliner CDU lehnte im Juli 2015 mehrheitlich die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ab. Bis heute macht es Deutschland homosexuellen Paaren sehr schwer, ein Kind zu adoptieren.

Auf kommunaler Ebene jedoch, speziell in Berlin, werden gleichgeschlechtliche Paare gesucht: Als Pflegeeltern geben sie Kindern ein Zuhause. 4572 Pflegekinder wurden im Jahr 2011 deutschlandweit vermittelt – Tendenz steigend. Während homosexuelle Paare bei einer Adoption also als Eltern zweiter Klasse behandelt werden, sind sie als Pflegeeltern heiß begehrt. Sie werden eben gebraucht.

Dass sie Kinder haben wollen, ist Grunow und Puig früh klar. Als sie 2005 – da kennen sie sich ein Jahr – zusammenziehen, denken sie zunächst über eine Adoption nach. Doch die Nachfrage übersteigt in Deutschland deutlich das Angebot. Auf ein Kind kamen Ende 2012 rund sechs Bewerbungen, die Wartelisten sind lang. Das deutsche Adoptionsrecht macht es gleichgeschlechtlichen Paaren zusätzlich schwer. Anders als in vielen anderen europäischen Ländern können Schwule und Lesben Kinder nicht gemeinschaftlich, sondern nur als Einzelperson adoptieren. Und obwohl damit eine Adoption nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist, wird meistens zugunsten von Ehepaaren entschieden. „Die Chancen stehen sehr schlecht“, bekommen die Männer zu hören.

Neun Monate Vorbereitung

Michael Grunow und Carlos Puig weiten ihre Suche aus. Mehr als zwei Drittel aller gleichgeschlechtlichen Paare, die Kinder adoptieren, tun dies im Ausland. Doch auch hier stößt das Paar auf Hindernisse. Eine Auslandsadoption ist mit hohen Kosten verbunden. „Das hätte 15000 bis 20 000 Euro gekostet“, sagt Grunow – zu viel für die beiden. Sie geben sich geschlagen, haken den Kinderwunsch ab. „Wenn wir im Lotto gewinnen, machen wir es, haben wir damals gesagt", sagt Grunow heute.

Ihr Leben als Familie beginnt im Jahr 2011 in der U-Bahn. PR-Berater Grunow sieht auf dem Weg zur Arbeit eine Anzeige der Organisation „Familien für Kinder". Dort werden Pflegeeltern gesucht – auch gleichgeschlechtliche Paare sind willkommen. Es ist das erste Mal, dass er von dieser Möglichkeit erfährt. Zuhause erzählt er Carlos von seiner Entdeckung. Die beiden rufen sofort an und erfahren: Bevor sie ihr erstes Pflegekind aufnehmen können, müssen sie – wie alle anderen Bewerber – beweisen, dass sie als Eltern geeignet sind. Die Vorbereitung wird neun Monate dauern.

Nun leben sie zu acht in dem Einfamilienhaus: zwei Männer, zwei Jungs, zwei Hunde, zwei Katzen. Felix trödelt. In seiner langen Unterhose sitzt er auf einem Hocker und schaut auf die zwei Hündinnen, die winselnd darauf warten, Gassi zu gehen. „Zieh mal deine Hose an, wir müssen Papi zum Zug bringen“, ruft Grunow durch den Hausflur. Carlos Puig, Papi, packt seine Tasche für den Arbeitstag und geht noch mal ins Bad. Auf der Tür klebt ein Schild: Herren. An den Wänden im Flur hängen Fotos. Michael und Carlos beim Spanienurlaub, Felix und Frederico als Tiger verkleidet beim Fasching, alle vier im Zoo. Momentaufnahmen der letzten vier Jahre – Familienchronik.

Alles Wunschkinder

Nach dem Bahnhof geht es in den Wald. Immer wieder läuft Frederico auf Michael Grunow zu, will, dass er ihn in die Luft wirft. Beide lachen. Felix malt mit einem Stock Spuren in den sandigen Boden. In der Kita sind im Moment viele krank, deshalb bleiben die beiden heute zu Hause. „Manche Eltern schicken ihre Kinder trotzdem hin“, sagt Grunow und man spürt, dass er davon wenig hält. Besser zu viel Vorsicht als zu wenig. Dass die beiden Jungen zwei Väter haben, wurde in der Kita problemlos aufgenommen. Nur die anderen Kinder kamen erst durcheinander, wenn morgens Michael Grunow und dann abends Carlos Puig kam. „Am Anfang haben sie gesagt: Dein Papa sah aber heute früh noch ganz anders aus“, sagt Grunow. Heute kennen auch die Kita-Kinder den Unterschied zwischen Papi und Papa. Manchmal verbessern sie sich gegenseitig.

Eine, die sich für Regenbogenfamilien einsetzt, ist Constanze Körner. Sie leitet das Regenbogenfamilienzentrum des Lesben- und Schwulenverbands in Berlin-Schöneberg, das sich um gleichgeschlechtliche Eltern und solche, die es werden wollen, kümmert. Die Nachfrage ist extrem gestiegen. Als Körner 2005 begann, arbeitete sie mit vier Familien, heute berät sie rund 500 Paare pro Jahr. Dass Heteropaare als geeignete Eltern betrachtet werden, weil sie die biologischen Fähigkeiten haben, Kinder zu bekommen, während alle anderen sich ständig rechtfertigen müssten, frustriere viele. Dabei, und das zu betonen, ist ihr wichtig, hätten Kinder in Regenbogenfamilien doch einen entscheidenden Vorteil: „Das sind alles Wunschkinder.“

Lange Bedenkzeiten und Formulare

Deshalb geben Michael Grunow und Carlos Puig nie auf. Nach einem ersten Infoabend werden die beiden zu einem Vorbereitungsseminar eingeladen. Sie sind nicht das einzige gleichgeschlechtliche Paar. Ob Menschen schwul, lesbisch oder hetero sind, ist dort – anders als bei der Adoption – unwichtig. Die Bewerber werden von Anfang an darauf eingeschworen, dass es keine reine Eltern-Kind-Situation geben werde, sondern eine Beziehung zwischen dem Kind, den Pflegeeltern, den Herkunftseltern, dem Jugendamt und anderen Stellen. „Du bist ein freier Mitarbeiter des Jugendamts. Die ziehen das auf eine ganz rationale Ebene, was sicher auch gut ist“, sagt Grunow. Sein Freund gibt zu, dass ihm das erst schwergefallen sei. Bei regelmäßigen Terminen mit dem Kinderpflegedienst kommt alles auf den Tisch, es geht um Beziehung der beiden und ihre Lebensgeschichte. Zwischen den Terminen, die rund vier Wochen auseinanderliegen, bekommen die werdenden Väter Bedenkzeit und Stapel von Formularen, die sie ausfüllen müssen.

Eines dieser Formulare ist ein acht Seiten langer Fragebogen. Einige der Abschnitte machen klar, aus welch schwierigen Familien Pflegekinder teilweise kommen. „Wie stehen Sie zur Aufnahme eines Kindes, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass es aus einer Inzestbeziehung stammt?“ ist eine davon. Auch ob man ein Problem damit hätte, verhaltensgestörte, misshandelte oder sexuell missbrauchte Kinder bei sich aufzunehmen, wird gefragt. Allmählich wird Michael Grunow und Carlos Puig bewusst, auf was sie sich da eingelassen haben. Trotzdem, oder gerade deswegen wollen sie Pflegeeltern werden. Sie wollen helfen, mindestens genau so sehr, wie sie Väter werden wollen.

Das erste Treffen in der Kita

Nach der Vorbereitung kommt das Warten. Die Männer haben Glück, der Anruf kommt nur kurze Zeit später: Es gebe ein Kind, zu dem sie gut passen würden. Ein Zweijähriger, der mit weniger als einem Jahr aus seiner Familie genommen werden musste, weil diese mit der Erziehung überfordert war. Man suche eine Familie für die unbefristete Pflege.

Das erste Mal treffen sie Felix in der Kita, in Begleitung seiner Kurzzeitpflegemutter, die ihn zunächst betreute. Fünf Minuten Anschauen, kein Körperkontakt. Trotzdem ist es um Grunow geschehen. „Den nehmen wir!“

Sie lernen die Eltern des Jungen kennen. Die Herkunftsfamilien sollen mit den Pflegeeltern einverstanden sein. Das erste Treffen verläuft gut, es folgen dutzende weitere. Felix' Eltern haben kein Problem mit Grunow und Puig, auch nicht damit, dass sie schwul sind. Nach mehreren Wochen dürfen sie Felix endlich mit zu sich nach Hause nehmen. Doch das Sorgerecht bleibt bei Felix’ leiblichen Eltern. Bis heute treffen sie sich alle zusammen regelmäßig in einem Spielzimmer des Kinderpflegedienstes. „Das sind die längsten Stunden des Monats“, sagt Grunow. Zusätzlich müssen sie mit Felix’ Eltern die Ziele für das nächste halbe Jahr abstimmen.

Nach dem Spaziergang gibt es Mittagessen, Früchteteller, die Carlos am Morgen vorbereitet hat. Er hat kleine Namensschilder auf die Teller gelegt, damit Michael weiß, wer welchen bekommt. In Spanien hat Carlos als Altenpfleger gearbeitet, er kennt sich mit Ernährung aus. Und er nimmt es genau. Zucker ist im Hause Grunow-Puig verboten. Papa süßt Felix’ Tee mit Honig. Ihren Umzug aufs Land hat die Familie sorgsam geplant. Jeden in Frage kommenden Wohnort haben die Männer inspiziert, immer darauf achtend, ob es in der Gegend zum Beispiel eine rechte Szene gibt. Das ungute Gefühl, was alles passieren könnte, wenn ihre Söhne in die Schule kommen, hat sie bis heute nicht ganz verlassen. „Das Einzige, was wir tun können, ist sie so stark zu machen, dass sie damit umgehen können.“

Die ersten Wochen mit Felix sind schwer für die Familie. Immer wieder wacht er nachts schreiend auf, oft zieht er sich zurück. Nach vier Wochen sind Grunow und Puig verzweifelt. Die Beraterin beruhigt sie. Eigentlich klinge das alles ganz gut, wenn man Felix' Vorgeschichte betrachte. Sie sollen Geduld mit sich und dem Kind haben. Und wirklich: Mit der Zeit wird es besser. Nach einem Jahr beschließen die beiden, aufs Land zu ziehen und überlegen, einen zweiten Jungen aufzunehmen, einen Bruder für Felix. Im November 2013 ruft Puig bei der Pflegekindstelle an. Nur mal vorfühlen, erst wollen sie ihr Haus fertig bauen.

Ein Bruder für Felix

Doch eine Woche später bekommt er bei der Arbeit einen Anruf. Es gebe da ein Kind, man müsse noch ein paar Formalitäten klären, wolle es aber noch vor Weihnachten vermitteln. Völlig überrumpelt, erzählt Puig zu Hause erst einmal nichts. Erst als ihn sein Freund am Abend fragt, warum er so seltsam gelaunt sei, bricht es aus ihm heraus: Da gibt es einen Jungen, ein Baby noch, so klein, dass es noch nicht mal einen Namen hat… Michael Grunow schaltet sofort den Computer ein, um sich bei Ebay über die Preise von Babysachen zu informieren. Weil Frederico noch klein ist, dauert das Prozedere diesmal nur eine Woche. Sechs Mal kommt das Baby sie mit seiner Pflegerin besuchen. Beim siebten Mal, am 21. Dezember 2013, verlässt sie das Haus alleine. Frederico, das schönste Weihnachtsgeschenk, das sie je bekommen haben, sagen sie heute.

Wenn alles gut geht, werden Michael, Carlos, Felix und Frederico zusammenbleiben, bis die Jungs erwachsen sind. Unbefristete Vollzeitpflege, nennt sich das. Rein juristisch bleiben die Pflegeeltern nur Dienstleister für die Eltern. Auch wenn es in ihrem Fall unwahrscheinlich ist: Wie gehen sie damit um, dass ihnen die Kinder theoretisch wieder genommen werden können? Wie vereint man Liebe und Rechtslage? „Das hängt immer über einem“, sagt Michael Grunow. Doch im Alltag bleibt für die düsteren Gedanken meist keine Zeit.

Es ist Mittag geworden. Frederico und Felix haben gegessen, Paella, die Carlos vorbereitet hatte. Zeit für den Mittagsschlaf. Die beiden verlassen die Küche, gehen an den Familienfotos vorbei zu ihren Zimmern. Frederico schläft schnell ein. Felix trödelt. Unentschlossen steht er im Flur. Was los sei, fragt Michael und hebt ihn hoch. Er habe schlecht geträumt neulich.

Felix sagt: „Ich war im Wald.“

Sein Vater fragt: „Ganz allein?“

Felix sagt: „Bis du mich rausgeholt hast.“

Michael Grunow lächelt. Er küsst seinen Sohn auf die Stirn und sagt: „Dafür bin ich da.“

*Namen der Familie geändert

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