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Hier angezogen. Stefan Mesch ist Autor und Journalist. Er lebt in Berlin.

© Mike Wolff

Queerspiegel-Essay: Nackt im Netz

Als Jugendlicher geriet unser Autor nackt vor anderen in Panik. Nun hat er sich im Rahmen eines Kunstprojekts im Netz ausgezogen. Für wen und warum, erklärt er hier.

Ich hatte meinen ersten Kuss mit 21. Den ersten Sex mit 26. Den ersten guten Sex mit 29 – vor kaum vier Jahren. Jetzt stehe ich im Zimmer einer Frau, die ich nicht kenne. Vor mir, am Fenster, zieht sich Fatih aus: Er spricht Englisch und war gerade zwei Wochen in der Türkei, um seine Familie zu besuchen. Ich traf ihn und seine Mitbewohnerin vor acht Minuten. Während ich eine teure Kamera auf ein Stativ schraube, zeigt Fatih eine große Flöte aus der Türkei. Ein altes Buch. Pfeil und Bogen: Requisiten, die er vielleicht benutzen will. Wir brauchen 20, 25 Minuten, um zehn, zwölf Aktfotos von ihm zu machen. Schon zwei Stunden später erscheint das gelungenste öffentlich im Netz: Ein nachdenklicher Mann mit rasiertem Schamhaar steht im Gegenlicht, zwischen einer Topfpflanze und viel mädchenhafter Deko, und zielt mit einem Sportbogen zur 30, 40 Zentimeter entfernten Wand. Ein absurdes Motiv – das viel erzählt: über Fatihs Selbstbild. Fatihs Wohnsituation. Über Einrichtung, Körperbilder, Männlichkeit. Und Vorstellungen von „Authentizität“ in Berlin, im Jahr 2016.

2012 fotografierte der tschechische Fotokünstler Martin Gabriel Pavel Freunde und Fremde in einem Studio in Prag – ein Portrait täglich, 366 Tage lang, nur Kopf und Oberkörper: der erste Teil seiner „Daily Portrait“-Reihe. Männer zeigten die nackte Brust, Frauen trugen BHs. 2013 bloggte Pavel tägliche Polaroids von öffentlichen Orten – wieder meist junge Menschen in Prag. „Daily Portrait 3“ zeigte 2014 heimliche digitale Snapshots müder Pendler in der Prager U-Bahn.

Ich kenne das Projekt aus Sex-Foto-Sammlungen auf Tumblr

2015, für „Daily Portrait 4“, hörte Pavel auf, den Auslöser selbst zu drücken: Bei einem Berlin-Besuch machte er Portraits neuer Bekannter. Und fragte sich schnell: Warum nicht die Kontrolle abgeben, für zwölf Monate? Bis Anfang Oktober 2016 wurde Pavels Digitalkamera durch Berlin gereicht, Berliner*innen ließen sich von Fremden fotografieren, in den eigenen vier Wänden, und fotografierten am Folgetag selbst andere Fremde. Pavel gab nur via E-Mail Kontaktdaten, Termine und Instruktionen weiter. Einige posierten in Unterwäsche. Die meisten aber sind auf den Fotos, wie von Pavel gewünscht: nackt.

Ich kenne das Projekt durch schnelle Klick- und Fotostrecken auf Online-Nachrichtenseiten, aus Facebook und, weil sich die Bilder in (schwulen wie heterosexuellen) Sex-Foto-Sammlungen auf Tumblr verbreiten. Im Januar nahm eine Freundin teil. Über Wochen überlegte ich eher mitleidig: „Was war die schlimmste Konsequenz? Wurde sie verspottet, sind Leute enttäuscht von ihr? Geht es ihr gut damit, so exponiert zu sein?“

Immer wieder überlegte ich, wie ich selbst umgehen könnte mit Blicken, Reaktionen, Urteilen über meinen Körper – und über den Entschluss, an einem so öffentlichen Projekt teilzunehmen.

Vor dem 60. meines Vaters teilzunehmen, hätte mich überfordert

Mitte September feierte mein Vater seinen 60. Geburtstag, mit einem großen Fest. Er lebt noch in dem 2000-Einwohner-Dorf in Süddeutschland, in dem ich aufwuchs. Vielen Menschen dort erscheint bereits mein öffentliches Schreiben, Bloggen, Instagrammen distanzlos oder narzisstisch. Schon vor dem Fest an „Daily Portrait“ teilzunehmen, hätte mich überfordert.

Auch danach brauchte ich noch etwas Zeit, um Mut zu fassen. Schließlich mailte ich Martin – und hörte zwei Wochen lang nichts. Ich nahm an, das Projekt sei bereits abgeschlossen. Dann, überraschend, doch noch eine kurze Mail: Ob ich Zeit fände, Fotomotiv Nummer 372 zu werden – und danach Foto Nummer 373 (Fatih) zu schießen?

Beim Shooting frage ich Fatih, wann er sich zur Teilnahme entschloss. „Yesterday. I e-mailed Martin at the airport in Turkey. As I boarded the plane, he said yes.“ So wirken auf mich fast alle Menschen, die in solchen Projekten leuchten: spontan, verspielt, souverän, direkt. Ich selbst brauchte sieben Monate für meine Entscheidung. Und starre auf meinem eigenen Aktfoto so angespannt nach links, als wäre dort kein Fotograf. Sondern ein Skorpion, eine Schlange. Oder die Festgesellschaft meines Vaters.

Den kompletten Artikel lesen Sie am Sonnabend, 22. Oktober, auf den Mehr Berlin-Seiten des gedruckten Tagesspiegels - oder hier für nur 45 Cent im Online-Kiosk Blendle. Mehr LGBTI-Themen finden Sie auf dem Queerspiegel, dem queeren Blog des Tagesspiegels. Folgen Sie dem Queerspiegel auf Twitter:

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