zum Hauptinhalt
Eine Szene aus dem Film xxy.

© dpa/picture-alliance

EU prangert Diskriminierung an: Grundrechte von Intersexuellen werden oft verletzt

In vielen EU-Ländern werden die Grundrechte von Intersexuellen verletzt. Überall werden schon intersexuelle Säuglinge und Kleinkinder geschlechtszuweisenden Operationen unterzogen. Nur Malta stellt das seit neuestem unter Strafe.

In den meisten EU-Ländern ist die rechtliche und medizinische Situation für Intersexuelle noch immer unbefriedigend. Das geht aus dem Paper „The Fundamental Rights Situation of Intersex People“ hervor, das die European Union Agency for Fundamental Rights soeben veröffentlicht hat. Intersexuelle würden vielfach in ihren Grundrechten verletzt.

Zu Recht wehren sich Intersexuelle gegen Pathologisierung

Intersexuelle sind Personen mit körperlichen Merkmalen, die gemäß den geltenden medizinischen Definitionen nicht eindeutig als „männlich“ oder als „weiblich“ einzustufen sind. Diese Abweichungen können im Chromosomensatz, bei den Hormonen und oder in der Anatomie auftreten. Oft werden sie bei der Geburt bemerkt oder auch schon vorher, oft aber auch erst während der Pubertät. Die meisten dieser Menschen sind aber gesund, nur ein sehr kleiner Prozentsatz zeigt Merkmale, die sofort behandelt werden müssen, heißt es in dem EU-Papier. Der Begriff Intersexualität bezeichne also viele Variationen körperlicher Merkmale und gerade kein Krankheitsbild. Zu Recht wehrten sich Intersexuelle darum gegen ihre Pathologisierung.

Viele Grundrechte werden verletzt

In vielen EU-Ländern werden Intersexuelle Praktiken unterzogen, die ihre Grundrechte verletzen, stellt der Bericht fest. So garantiere Artikel 1 der Grundrechte-Charta der EU, die Würde des Menschen zu schützen. Artikel 3 gewähre die Unversehrtheit der Person, Artikel 7 Respekt vor der Privatsphäre und dem Familienleben, Artikel 9 das Recht, eine Familie zu gründen. Artikel 24 garantiere Kindern das Recht, ihre Meinungen frei ausdrücken zu dürfen und damit gemäß ihres Alters berücksichtigt zu werden.

Eine folgenreiche Entscheidung schon bei der Geburt

Tatsächlich aber verlangten die meisten Mitgliedsstaaten, dass Säuglinge bei der Geburt als entweder weiblich oder als männlich registriert werden müssen, obwohl dies bei neugeborenen Intersexuellen nicht immer möglich ist. Ärzte und Eltern würden so gezwungen, zu einem zu frühen Zeitpunkt ohne Berücksichtigung des Kindeswunsches und oft auch ohne psychologische Unterstützung eine folgenreiche Entscheidung zu treffen. So werde das Recht des Kindes auf physische und geistige Unversehrtheit verletzt.

18 der Mitgliedsstaaten würden im Falle von Intersexualität zwar einen Aufschub bei der Registrierung der Säuglinge als männlich oder weiblich gewähren. Doch in sechs Staaten, nämlich in Österreich, Belgien, Bulgarien, Frankreich, Luxemburg und der Slowakei beträgt er nur eine Woche.  Manchmal erlaube der Aufschub es zumindest, medizinisch eine Tendenz zu einem der beiden Geschlechter festzustellen. Doch häufig würden schon an kleinen Kindern medizinische Eingriffe vorgenommen, auch Operationen.

"Unklar" als Geschlecht - das geht nur in wenigen EU-Ländern

Erst in wenigen EU-Ländern kann das Geschlecht als „unklar“ in die Geburtsurkunde eingetragen werden, so dass von dieser Seite her kein Zwang zu frühen Eingriffen mehr besteht: im Vereinigten Königreich, in Lettland, in Portugal, in Malta und in Deutschland. In Deutschland gibt es es seit dem 1. November 2013 keine Frist mehr, binnen der das Geschlecht in die Geburtsurkunde eingetragen werden muss.

In Frankreich kann das Geschlecht in der Geburtsurkunde zwar offen bleiben, aber nach höchstens drei Jahren medizinischer Behandlung muss es geklärt sein. In Finnland bekommt ein Kind, dessen Geburtsurkunde es nicht als männlich oder als weiblich ausweist, keine persönliche Identitätsnummer. Diese Nummer ist in Finnland aber nötig für den Umgang mit der Verwaltung, für die Lohnabrechnung oder um ein Bankkonto zu eröffnen.

In Dänemark, Frankreich und den Niederlanden können Intersexuelle später im Leben das Geschlecht in ihrer Geburtsurkunde ändern, ohne dafür die Voraussetzungen erfüllen zu müssen, die für Transsexuelle gelten (in Frankreich: Diagnose einer Störung der Geschlechtsidentität, Hormonbehandlung oder sonstige physische Anpassung, Gerichtsbeschluss, medizinische Einschätzung sowie eine Operation der Genitalien, die zu Sterilität führt).

Auch in Deutschland gibt es schon Eingriffe bei Säuglingen

Intersexuelle und ihre Eltern sind in Europa überwiegend von medizinischen Diagnosen abhängig, wenn es um die Zertifizierung des Geschlechts geht, kritisiert das Papier. Über die Häufigkeit medizinischer Eingriffe an intersexuellen Kindern gebe es für Europa keine Statistik. Offenbar seien solche Eingriffe aber schon an Säuglingen und Kleinkindern häufig, mindestens in 21 EU-Ländern würden sie praktiziert, darunter auch Deutschland. Vielfach gehe es dabei um bloß kosmetische Eingriffe, die medizinisch gar nicht nötig sein, aber zu einer irreversiblen Geschlechtszuweisung und zu Sterilisation führen können. In 18 Staaten, auch in Deutschland, sei dazu zwar die Zustimmung des Patienten nötig. Das Alter, in dem Kinder als reif genug für Mitsprache gelten, werde dabei aber oft flexibel bei etwa 12 oder 14 Jahren angesetzt. Das berge das Risiko, dass medizinische Eingriffe dem Teenager auch gegen seinen Willen übergeholfen werden, heißt es in dem Papier. In acht Ländern könnten die Eltern auch ohne Einwilligung des Kindes über „normalisierende“ Operationen entscheiden.

"Grausam, unmenschlich, entwürdigend"

Das Papier zitiert den Sonderberichterstatter der UN für Folter, wonach Gesetze, die erzwungene Operationen zur Geschlechtsanpassung oder unfreiwillige Sterilisierung vorsehen, aufgehoben werden müssen. Gemäß der Menschenrechte würden medizinische Eingriffe jenseits von Notfällen ohne Einwilligung des Patienten als  grausam, unmenschlich und entwürdigend gelten. Die Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen der deutschen Länder habe Genitaloperationen an Intersexuellen mit Geschlechtsverstümmelung gleichgesetzt, berichtet der Report.

Die EU-Länder seien gehalten, auf frühe Geschlechtszuweisungen in Geburtsurkunden zu verzichten und keine medizinischen Eingriffe zum Zwecke der geschlechtlichen Vereindeutigung mehr an intersexuellen Menschen ohne deren Zustimmung durchzuführen. Ärzte und Gerichte müssten über die Grundrechte von Intersexuellen besser informiert werden.

Als fortschrittlich gilt einzig Malta

Als sehr fortschrittlich gilt einzig Malta. Es ist das erste und einzige EU-Land, das Menschen mit von der Norm abweichenden Geschlechtsmerkmalen mit einem eigenen Gesetz vor Diskriminierung schützt. Mit dem „Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics Act“ werden medizinische Eingriffe an Intersexuellen ohne deren Zustimmung unrechtmäßig. Das Gesetz, das Malta im April erließ, wurde von der „Organisation Intersex International (OII) Europe“ stürmisch begrüßt und anderen EU-Ländern zur Nachahmung empfohlen.

Dieser Text erscheint auf dem Queerspiegel, dem neuen queeren Blog des Tagesspiegels, den Sie hier finden. Themenanregungen und Kritik gern im Kommentarbereich etwas weiter unten auf dieser Seite oder per Email an:queer@tagesspiegel.de. Twittern Sie mit unter dem Hashtag #Queerspiegel – zum Twitterfeed zum Queerspiegel geht es hier.

Zur Startseite