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Autor und Aktivist. iO Tillett Wright aus New York.

© Ryan Pfluger/Suhrkamp

"Darling Days" von iO Tillett Wright: Ab heute heiße ich Ricky

Packend: In „Darling Days“ erinnert sich iO Tillett Wright an seine Kindheit und Jugend in der New Yorker Künstlerszene.

Falls es demnächst mal wieder Aufregung um All-Gender-Toiletten geben sollte, sei all jenen, die deren Einrichtung vehement ablehnen, das zehnte Kapitel von iO Tillett Wrights Jugenderinnerungen „Darling Days“ empfohlen. Es trägt den Titel „Pinkeln“ und handelt davon, wie sich der Autor – damals sieben Jahre alt – auf dem Schulflur in die Hosen macht. Er traut sich nämlich nicht auf die Toilette, so lange andere Jungen sich dort aufhalten.

Zu groß ist seine Angst, dass jemand entdecken könnte, dass er biologisch gesehen ein Mädchen ist. „Ich habe kein Nicht-Jungen-Ich, das zur Not einspringen kann, es gibt nur dieses Jungen-Ich, das sich nicht mit meiner Anatomie vereinbaren lässt“, schreibt der 1985 in New York geborene Künstler, Aktivist und Autor. Hätte es in den Neunzigern bereits genderneutrale Waschräume in den Schulen seiner Heimatstadt gegeben, wie es seit diesem Jahr vorgeschrieben ist, wäre seine Schulzeit sicher entspannter verlaufen.

Mit sechs Jahren beschließt iO als Junge zu leben, nachdem ein paar Jungs sie nicht bei einem Footballspiel im Central Park mitmachen lassen – sie wollen keine Mädchen dabeihaben. „Ab heute heiße ich Ricky, Poppa“, sagt er zum Vater. Der reagiert cool, akzeptiert es sofort. Er war es schließlich auch, der sein Kind genderunscharf nach dem Jupitermond Io benannt hatte. Mutter Rhonna hat ebenfalls keine Einwände. „Jungs haben Spaß, Mädchen haben alle möglichen Einschränkungen. Sie kapiert es.“ Die Eltern, die sich trennen als iO ungefähr ein Jahr alt ist, gehören zur Künstlerszene der Lower Eastside. Dort wundert sich niemand über ein Kind, das sich sein Geschlecht selber aussucht. Nan Goldin ist iOs Patentante. Eines der vielen Fotos in „Darling Days“ stammt von ihr. Es trägt den Titel „Portrait of The American Child, 1995“ und zeigt iO mit Camouflage-Klamotten und Tarnschminke in einem Geschäft. Das wehrhafte Outfit erscheint sinnvoll, denn die Gegend, in der er mit seiner Mutter lebt, ist hart. Drogen, Überfälle und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Seine damalige Nachbarschaft voller Freaks, Transen, Hells Angels und Obdachloser beschreibt Tillett Wright eindrücklich.

Ein starker Beitrag zum Genre des Memoir

Die durchtrainierte, meist sexy gestylte Rhonna ist Model und Schauspielerin. In jeder freien Minute geht sie in die Tanzschule. Ihre Extravaganz und ihre unkonventionelle Art gehen mit einer extremen emotionalen Wankelmütigkeit einher. „Mische einen Teil Einhorn, drei Teile Gewittersturm, zwei Teile verwunderter Kampfstier, dann hast du ungefähr den Vibe, der meine Mutter umgab. Ein rasender Tiger hätte schlechte Karten gegen sie gehabt.“ Traumatisiert vom gewaltsamen Tod eines früheren Geliebten hat Rhonna zwar immer noch ein immense Energie, aber auch eine Menge Dämonen, die iOs Kindheit mehr und mehr überschatten. Problematisch sind nicht nur ihre Ausraster – wobei sie iO nie schlägt – und ihre zweifelhaften Partner, sie lässt es vor allem an Fürsorglichkeit vermissen. Die Wohnung vermüllt, die beiden haben immer zu wenig Geld und zu essen. Weshalb kreative Hungerbekämpfung ein wichtiges Thema des ersten Buchteils darstellt.

„Darling Days“ ist ein starker Beitrag zum Genre des Memoir. Tillett Wright gelingt es mit seiner lockeren, unlarmoyanten Sprache glaubhaft die Kinderperspektive zu vermitteln. Manche unglaubliche Anekdoten, wie die, als er einmal von seiner Mutter in einer Budapester Badeanstalt vergessen und dann in einem Polizeiwagen zu ihr zurückgebracht wird, lesen sich wie Kurzgeschichten und zeigen, was für ein widerstandfähiger kleiner Kerl er war.

Irgendwann ist seine Kraft dann aber doch am Ende und er triff eine drastische Entscheidung, die ihn zwar aus dem Chaos befreit, aber gleichzeitig das Herz zerreißt. Denn bei allem Horror liebt er seine Mutter abgöttisch. Nur wohnen kann er nicht mehr bei ihr, und so erstreitet er sich mit Hilfe des Jugendamtes und eines Prozesses das Recht, bei seinem Vater zu leben. Wie einschneidend diese von ihm selbst als Verrat bezeichnete Selbstbefreiung für iO Tillett Wright ist, machen zwei aufgewühlte, von Superlativen und drastischen Metaphern erfüllte Seiten in der Buchmitte klar, auf denen es unter anderem heißt: „Ich schlitze meiner Mutter, meiner besten Freundin, die Gurgel auf.“

Sehnsucht nach Normalität

Dass anschließend Ruhe in das Leben des knapp 13-Jährigen einkehren könnte, ist natürlich eine Illusion. Es folgt eine Odyssee nach Karlsruhe, wo der Vater als Künstler für eine Tanzcompagnie arbeitet, in ein englisches Internat und schließlich zurück nach New York. Mit Einsetzen der Pubertät wechselt iO Tillett Wright, der sich heute als Mann definiert, zurück in die Mädchenrolle – wieder vom einen auf den anderen Tag. Die Identitätssuche ist damit keineswegs zu Ende, denn iO verliebt sich – nicht nur einmal – in Mädchen. Angesichts des liberalen Umfelds, in dem er/sie aufgewachsen ist, erstaunt dann doch, wie stark iO sich dagegen wehrt, vielleicht lesbisch zu sein. „Ich will meine Normalitätsfantasie nicht aufgeben. Ich kann nicht damit umgehen, wie intensiv ich empfinde, wenn ich mit Frauen zusammen bin“, heißt es in einem Kapitel, das Mitte der nuller Jahre angesiedelt ist.

Wahrscheinlich ist diese Sehnsucht nach Normalität von der Unruhe der frühen Jahre bedingt. Sie ist nachvollziehbar, aber nicht wirklich realisierbar, was iO Tillett Wright gegen Ende von „Darling Days“ durchscheinen lässt. Es ist berührend und mitreißend, wie offen er seine Jugend in „Darling Days“ beschreibt – und ermutigend für alle, die ebenfalls in prekären Verhältnissen aufwachsen oder die ihnen zugewiesene Genderrolle infrage stellen.

iO Tillett Wright: Darling Days. Mein Leben zwischen den Geschlechtern. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Suhrkamp, Berlin 2017. 436 S., 15, 95 €.

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