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Gesundheitsministerin Rita Süssmuth bewilligte 1986 die Poster-Kampagne, deren Gesicht Ric Schachtebeck werden sollte.

© Jörg Reichardt/Deutsche Aids-Hilfe

30 Jahre Aids-Aufklärung: Wie Deutschlands erstes Safer-Sex-Poster entstand

"Ich benutze Kondome": Vor 30 Jahren posierte unser Autor für die Präventionskampagne der Aids-Hilfe gegen HIV. Er erlebte mit, wie Aids nach Deutschland kam - und wie man mit der Krankheit umging.

Der Anruf kam im Frühjahr 1986. Der Grafiker Detlev Pusch hatte den Zuschlag für die erste Safer-Sex-Poster-Kampagne der Deutschen Aids-Hilfe erhalten, er fragte, ob ich Lust hätte mitzumachen, als Model. Er schlug eine erotisch angehauchte Saunaszene vor, doch das war mir zu stereotyp. Ich wollte Flagge zeigen, eine größere Bevölkerungsgruppe erreichen und dabei die schwule Subkultur nicht außer Acht lassen. Wir diskutierten und verwarfen ein paar Ideen, einigten uns schließlich auf ein klassisches Porträt, gemeinsam mit dem Fotografen Jörg Reichardt.

Das Poster wurde ein Erfolg. Es hing in Kliniken und Apotheken, in Schulen, Bars und Bordellen, auch internationale Medien veröffentlichten das Bild. Wenn ich ausging, sprachen die Leute mich darauf an und über kurz oder lang fanden wir uns in einem Präventionsgespräch wieder. Ich wurde das Gesicht der Safer-Sex-Kampagne, in den Augen der anderen. Dem Anspruch, der daraus erwuchs, versuchte ich mit Mut, Verbindlichkeit und schwulem Stolz zu begegnen.

Noch heute werde ich manchmal auf das Plakat angesprochen, das nun 30 Jahre alt ist und dessen Geschichte für mich mit einem früheren New-York-Besuch begann. Im Frühjahr 1983 war ich nach Amerika geflogen, um Larry Kramer zu besuchen. Der Schriftsteller und LGBT-Aktivist hatte mit ein paar Leuten das Gay Men’s Health Center ins Leben gerufen, um ein deutliches Zeichen gegen das Versagen der Politik angesichts der Aids-Krise zu setzen. „Wir sind im Krieg“, sagte er, „die Regierung lässt uns verrecken“.

Aids brachte Wellen von Hass und Verachtung

Tatsächlich hatte die amerikanische Politik unter Ronald Reagan die AIDS-Epidemie zunächst ignoriert und lange keine Gelder für Forschung und Sozialdienste bereitgestellt. Wertvolle Zeit war verstrichen, Zeit, die viele Menschen das Leben kostete. Die ersten Todesfälle waren 1981 bekannt geworden, 1983 waren es bereits 3000. Die Zahl verdoppele sich alle sechs Monate, schrieb die Zeitung „The New York Native“. Larry Kramer mahnte die Gay-Community, sich aus der Schockstarre zu befreien und aktiv zu werden. Daraus ging das Gay Men’s Health Center hervor, bis heute eine der bedeutendsten Schwulenzentren weltweit.

Die Aids-Krise konfrontierte uns nicht nur mit einer tödlichen Krankheit, sondern – und das löste den eigentlichen Schock aus – mit erneuten, schwer bezwingbaren Wellen von Verachtung, Hass und Gewalt. Die Akzeptanz, die wir uns in den siebziger Jahren mühsam erkämpft hatten, stand wieder auf der Kippe. Doch während die New Yorker Schwulen die Aids-Krise als Chance begriffen, stand man der Epidemie in Berlin noch lange ohne Konzept gegenüber.

Mit einer reißerischen, apokalyptischen Titelgeschichte hatte „Der Spiegel“ das Land aufgeschreckt. Von einer „Schwulenpest“ war die Rede. Dass inzwischen auch heterosexuelle Männer, Frauen und sogar Kinder von der Krankheit betroffen waren, wurde geflissentlich übergangen. Die Berliner Szene verhielt sich abwartend, noch galt die Aids-Krise als amerikanisches Phänomen. Man reduzierte jedoch schon mal seine Sexualpartner, verschanzte sich in trügerisch sicherer Monogamie, manch einer versuchte sich gar im Zölibat. Auf die durchtanzten und verschwitzen Nächte in der Clubszene wurde erstmal verzichtet.

Panik und Hysterie bestimmten die Szene

Ansonsten herrschte Verunsicherung und Angst, man wusste ja noch nicht, wie die Krankheit übertragen wird. Jeder hatte da seine eigene Theorie und verhielt sich entsprechend, letztlich war jeder auf sich allein gestellt. Eine solidarische schwule Community, wie ich sie in New York kennengelernt hatte, gab es hier nicht. Um so mehr hielt ich den Kontakt zu den amerikanischen Freunden, pendelte zwischen Berlin und New York, lernte Betroffene kennen, nahm an Gesprächsrunden teil und stellte mich meinen Ängsten. Noch war Aids die Krankheit der anderen. Doch als Dave, der erste meiner Freunde, mit HIV diagnostiziert wurde, war die Krankheit unmittelbar in mein Leben vorgedrungen.

Das HI-Virus wurde Ende 1983 entdeckte als Auslöser von Aids identifiziert. Schnell war ein Testverfahren entwickelt und Sex mit Kondomen propagiert worden. Die Hoffnung auf Heilung blieb jedoch in weite Ferne gerückt, und der amerikanische Slogan „Safe sex is great sex“ wurde zum täglichen Mantra. Vorerst hatte der HIV-Test vor allem Paranoia und Stigmatisierung gebracht, positiv getestete Personen wurden wie Aussätzige behandelt. Höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Ich schloss mich einer kleinen Gruppe an, aus der später die Berliner Aids-Hilfe hervorging. Wir trafen uns reihum in unseren Wohnungen, entwarfen Konzepte für eine Beratungsstelle. Wir richteten eine Hotline ein, die wir von Zuhause aus bedienten. Dabei merkten wir, wie groß die Informationslücken in der Bevölkerung waren, Panik und Hysterie bestimmten die Szene.

Eine Art russisches Roulette

Vor allem zum HIV-Test wurden Fragen gestellt. Ich selbst hatte ihn gleich nach seiner Zulassung gemacht und nahm auch an einer Langzeitstudie des Robert-Koch-Instituts teil. Dennoch riet ich den Anrufern vom Test ab; denn letztlich lief es doch auf Sex mit Kondomen hinaus, so oder so.

Der Test, heute ein wichtiger Bestandteil der Frühdiagnose und Prävention, war damals eine Art russisches Roulette. Ein negatives Ergebnis bedeutete, dass man noch einmal davongekommen war, ein positives Ergebnis kam einem Todesurteil gleich, auf das die Ärzte nur mit hilflos tröstenden Worten reagieren konnten. Das stürzte viele in Verzweiflung und in Selbstmordgedanken, noch bevor sich erste Zeichen der Krankheit überhaupt bemerkbar machten.

Die bundesdeutsche Regierung reagierte zwiespältig, immerhin hatten einige Politiker aus den anfänglichen Versäumnissen der USA gelernt. So wurden zwar Forderungen nach Zwangstests, Quarantäne- und Internierungslagern laut, gleichzeitig manövrierte sich die Gesundheitsministerin Rita Süssmuth souverän durch die Aids-Krise. Sie setzte auf Aufklärung und Prävention, sie war es, die der Deutschen Aids-Hilfe jene Plakat-Kampagne bewilligte, deren Gesicht ich werden sollte.

Große Fortschritte in der Forschung

Die achtziger und frühen neunziger Jahre waren eine grausame Zeit, geprägt von Verlust, von zerrissenen Freundschaften und einer nie zuvor erlebten Trauer. Wir waren tatsächlich im Krieg, widerstandslos einem Virus ausgeliefert, das nur einem einzigen Code zu folgen schien – uns zu töten. Eine ganze Generation ist damals verschwunden. Das wird mir schmerzlich bewusst, wenn ich nach Männern in meinem Alter Ausschau halte. Viele sind nicht mehr da, sie leben schon lange nicht mehr.

Die Aids-Forschung hat in den letzten 20 Jahren große Fortschritte gemacht, mit den Erfolgen der antiretroviralen Therapie ist ein entscheidender Durchbruch erzielt. Die Angst ist gewichen, HIV wird heute von manchen als chronische Krankheit interpretiert. Attraktive Patienten lächeln von den Werbetafeln der Pharmaindustrie, verschwunden ist das ausgemergelte Schreckensgesicht eines Aids-Kranken, mit dem die Benetton-Werbung noch 1991 die Kundschaft schockierte. Die Ärzte haben die lebensrettende Kombinationstherapie, die anfangs noch von schweren Nebenwirkungen begleitet war, auf das Minimum von einer Dosis pro Tag reduziert. Und HIV-Positive, obgleich Virusträger, können in einen nicht infektiösen Zustand versetzt werden.

Kondome sind bis heute der beste Schutz

Seit kurzem ist sogar ein HIV-Medikament auf dem Markt, das als Prophylaxe gepriesen wird und den Gebrauch von Kondomen überflüssig machen soll. Die Aids-Hilfen haben ihre Präventionskataloge entsprechend erweitert und die neuen Möglichkeiten als „Safer-Sex ohne Gummi“ annonciert. Das hat zu neuer Verunsicherung und zu waghalsigen Interpretationen geführt.

Eine erschreckende Entwicklung. Denn der Gestus der Verantwortlichkeit und Fürsorge, den der Gebrauch von Kondomen auch bedeutet, droht wieder verloren zu gehen und durch ein Pseudovertrauen ersetzt zu werden, das in Wahrheit nichts anderes als Fahrlässigkeit ist. 3000 jährlich registrierte Neuinfektionen allein in Deutschland, dazu ein rapider Anstieg anderer sexuell übertragbarer Krankheiten wie Gonorrhöe und Hepatitis C sprechen für sich.

Kondome sind bis heute die bessere Alternative zur angepriesenen neuen Prophylaxe. Ich hatte das Glück, die Zeit vor Bekanntwerden der Epidemie zu überleben, dann haben die Kondome mich vor dem Virus geschützt. „Man kann das Virus stoppen. Ich benutze Kondome“: Die Botschaft, mit der wir vor 30 Jahren an die Öffentlichkeit gingen, hat sich bewahrheitet. Sie bleibt aktuell, für alle. Für Männer und Frauen, Trans-, Homo- und Heterosexuelle – gerade in einer Zeit, in der mit den Unterschieden wieder Politik gemacht wird.

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Ric Schachtebeck

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