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Pro & Contra: Kinder ohrfeigen - auch ein Ausrutscher ist strafbar

Das Urteil gegen einen Vater, der seine Tochter ohrfeigte, hat eine Debatte ausgelöst. Tatsächlich kommen drei von vier Eltern nicht gänzlich ohne Gewalt aus.

Von Sandra Dassler

Das Urteil gegen einen Vater, der 800 Euro zahlen musste, weil er seine kleine Tochter zweimal ohrfeigte, hat eine heftige Debatte ausgelöst. Die einen begrüßen den Richterspruch ausdrücklich, andere finden es weltfremd, Eltern zu bestrafen, denen einmal die Hand ausgerutscht ist. Georg Kohaupt beispielsweise hält das Urteil für ziemlich hart. Der 61-Jährige arbeitet seit 1983 als Familienberater im Kinderschutzzentrum Berlin, das Kindern und Eltern vertrauliche Hilfe in familiären Konflikten anbietet.

„Wer zu uns kommt, muss keine Anzeige befürchten“, sagt er. „Nur in extremen Fällen schalten wir das Jugendamt ein.“ Wichtig sei, herauszufinden, was hinter der Ohrfeige, der Kopfnuss oder dem Klaps auf den Po steckt. Und wie man Kindern und Eltern helfen kann. Um Pädagogik gehe es, nicht um Strafe.

Ohnehin stehen Ohrfeige und Klaps erst seit 2000 unter Strafe. „Bis 1957 stand im Bürgerlichen Gesetzbuch der Bundesrepublik, dass der Vater körperliche Züchtigung ausüben darf“, sagt Georg Kohaupt. „Das wurde geändert, aber nicht, um die Kinder zu schützen, sondern, weil es in vielen Familien keinen Vater gab und Frauen gleichberechtigt sein sollten. Auch danach galt körperliche Züchtigung in Maßen als Gewohnheitsrecht der Eltern.“ Erst seit dem 8. November 2000 heißt es im Paragraf 1631 klipp und klar: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

Der 46-jährige Vater, der – wie berichtet – seine vierjährige Tochter ohrfeigte, weil sie auf dem Wochenmarkt weggelaufen war, wurde wegen Körperverletzung verurteilt, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Silke Becker. Ihm nur eine Verwarnung zu erteilen, sei im Erwachsenenstrafrecht nicht möglich gewesen.

Ein Zeuge hatte den ohrfeigenden Vater angezeigt. So etwas kommt in Berlin extrem selten vor, heißt es bei der Polizei. Zwar steige die Zahl der Meldungen in Sachen Kindesvernachlässigung und Kindesmissbrauch kontinuierlich, aber Ohrfeigen werden kaum angezeigt. Laut Polizeistatistik wurden im Jahr 2008 rund 43 000 Fälle von Körperverletzung registriert, davon fanden nur 648 zwischen Eltern und Kindern statt. „Für leichtere Fälle sind die Schutzbereiche zuständig“, sagt ein Polizeisprecher. „Dort kommt es höchstens zweimal im Jahr vor, dass ein Fremder einen Vater oder eine Mutter wegen einer Ohrfeige anzeigt. Häufiger ist so etwas zwischen Ehepartnern im Sorgerechtsstreit.“

Doch auch wenn Klaps oder Ohrfeige nicht angezeigt werden – drei von vier Eltern kommen im Laufe der Erziehung ihrer Kinder nicht ohne sie aus, sagt Georg Kohaupt vom Kinderschutzzentrum. Und beruft sich auf wissenschaftliche Untersuchungen, die in den 50er Jahren begannen: „Damals gaben 85 Prozent der Familien an, ihre Kinder ab und an leicht zu züchtigen. Heute sind es immerhin noch 76 Prozent – exorbitant viel.“

Bei schwerer körperlicher Gewalt, die mit dem Vorhandensein von sichtbaren Spuren wie Hämatomen oder mit der Benutzung von „Hilfsmitteln“ wie Riemen und Teppichklopfern definiert wurde, sank die Zahl von 12 Prozent 1950 auf sieben bis acht Prozent in der Gegenwart.

„Wir haben nur einen leichten Rückgang der Gewalt gegen Kinder“, sagt Kohaupt. „Aber wir haben eine dramatische Veränderung in der Bewertung dieser Gewalt.“ Früher habe Gewalt zum Erziehungskonzept dazugehört. Heute hingegen wird sie von vielen als Ausrutscher erlebt. „Man will nicht schlagen und ist ganz erschrocken, dass es doch passiert ist.“ Hilfe bietet auch die Hotline Kinderschutz an; sie berät regelmäßig Freunde oder Nachbarn, die nicht gleich zur Polizei gehen wollen. Leiterin Beate Köhn hat täglich mit schweren Misshandlungsfällen zu tun, findet aber auch Ohrfeigen nicht harmlos: „Davon kann man taub werden, das Trommelfell kann platzen.“

Natürlich ist die Situation für Familien nicht leicht, sagen Kohaupt und Köhn. Neben sozialer Ausgrenzung, krisenhaften Entwicklungen und biografischen Besonderheiten herrsche in Sachen Erziehung auch große Ratlosigkeit. „Wir haben den Anspruch, Kinder gewaltfrei und demokratisch zu erziehen und sie als Persönlichkeit ernst zu nehmen“, sagt Köhn. Auf der anderen Seite müssten Kinder lernen, andere Persönlichkeiten zu achten. Einem Dreijährigen müsse man eben erklären, „dass er in der S-Bahn nicht einer älteren Dame auf dem Schoß herumtrampeln kann – nur, weil er aus dem Fenster schauen will.“

Außerdem führt nicht jeder Klaps zur Erziehungskatastrophe. „Es kommt auf den Kontext an“, sagt Kohaupt. Wenn ein Kind wisse, dass es geliebt werde und die Schelle nur bekam, weil die Mutter Angst hatte, halte sich der Schaden in Grenzen. „Das kann ein Kind auch mal verkraften.“

Soll man Eltern wegen einer Ohrfeige anzeigen?

PRO

Eine Ohrfeige schadet angeblich nicht. Soll man deshalb auch wegsehen, wenn ein Kind von der Mutter oder dem Vater geschlagen wird? Nein und nochmals nein! Wer seinem Kind in der Öffentlichkeit Schläge verpasst, wird sich wahrscheinlich zu Hause erst recht nicht beherrschen können. Egal, in welcher Situation. Sicher, Kinder können nerven und auch Eltern zur Weißglut treiben, so dass die Hand schon mal ausrutschen will. In den eigenen Wänden bleiben Schläge leider ja meist ungesühnt. Wo niemand zusehen kann, kann auch niemand eingreifen. Anders in der Öffentlichkeit. Die Möglichkeit, Kinder zu schützen, soll man hier auch nutzen. Einfach ist es nicht. Schon beim Ansprechen riskiert man, selbst attackiert zu werden. Nicht nur verbal. Deshalb ist es richtig, Hilfe durch die Polizei zu holen und Anzeige zu erstatten. Dann müssen die Zuschlagenden wenigstens nachdenken. Und wenn sie auch noch vor Gericht erscheinen müssen, heben sie sicher nicht mehr so schnell die Hand zum Zuschlagen – zumindest nicht in der Öffentlichkeit und dann vielleicht auch nicht mehr zu Hause. Erziehen mit Schlägen sollte nicht nur auf dem Papier verboten sein, sondern auch aus den Köpfen verschwinden. Notfalls mit Druck von außen. Dazu gehört auch eine Anzeige. Sie schadet ganz gewiss nicht. Klaus Kurpjuweit

CONTRA

Das ist eine Horrorvorstellung für alle Eltern: Die kleine Tochter oder der Sohn sind im Menschengewühl auf dem Markt oder im Kaufhaus plötzlich verschwunden. Panische Suche, Angst schnürt die Kehle zu – da kann einem als Vater im Affekt schon mal die Hand ausrutschen, wenn das verloren gegangene Kind plötzlich wieder da ist. Vor allem, falls man es vorher mehrfach ermahnt hat, bitte nicht zu bummeln und ständig zurück zu bleiben. Dass ein Vater für eine solche Schelle und eine zweite Ohrfeige etwas später im Auto angezeigt wurde und nun wegen Körperverletzung 800 Euro zahlen muss, ist übertrieben und wird der Situation nicht gerecht. Das soll kein Plädoyer fürs Schlagen sein. Wenn Kinder offenkundig misshandelt werden, muss man sich unbedingt einmischen und Anzeige erstatten. Aber eine Schelle ist normalerweise keine Misshandlung. In diesem Fall wäre es besser, wenn Dritte mit mehr Augenmaß und praktischer Lebenserfahrung reagierten. Eine Ohrfeige im Affekt kommt in den besten Familien vor. Wichtig ist, dass Eltern sich fragen, weshalb sie die Kontrolle verlieren, dass sie mit dem Kind darüber reden oder ihm in der Erziehung klarere Regeln aufzeigen. Wo führt es hin, wenn Eltern bei jeder Überreaktion damit rechnen müssen, dass ein Zeuge schon eifrig dabei ist, die Polizei zu rufen? Christoph Stollowsky

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