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Berlin: Potz Blitz

Regen kommt immer nach Büroschluss. Das Umland hat das bessere Wetter. Die Rudi-Dutschke-Straße ist Berlins windigster Ort. Spinnen die Großstädter? Alles nur Einbildung? Keineswegs, sagt der Meteorologe – und kann jedes Phänomen erklären.

Auch Großstädter sind irgendwie Bauern, und gar nicht mal die dümmsten. Zumindest haben sie Bauernregeln, aus denen sich ewiges Lamento übers Wetter speist. Sonderfälle wie der chronische Gegenwind beim Radfahren sowie das oft gehörte „am Wochenende regnet es sowieso“ sollen hier ausgespart werden, zumal allein schon ein Blick aus dem Fenster gerade das Gegenteil beweist. Aber auch jenseits des spezifischen Gejammers weiß fast jeder von lokalen Stürmen, Temperaturschocks und bösartigen Regenschauern zu berichten wie dem in der „Truman-Show“, bei dem in Wahrheit die Regie ganz oben im Himmelszelt die Duschbrause hin und her schiebt. Eine Sammlung urbaner Wetterweisheiten im Bekanntenkreis fördert Spannendes zutage – und ein Meteorologe kann viele Beobachtungen nicht nur bestätigen, sondern auch erklären.

Jörg Riemann, Fachmann fürs Wetter beim privaten Dienstleister Meteogroup in Neukölln, nimmt sich zunächst die Regenschauer vor, die Nine-to-Five-Büromenschen gern auf dem Heimweg ereilen: Ja, sagt Riemann, die meisten Schauer gibt es tatsächlich am späten Nachmittag. Denn erst dank des Sonnenscheins zuvor steigt kräftig aufgeheizte Luft auf. Dabei kühlt sie ab, kann immer weniger Feuchtigkeit speichern – und regnet ab. Solche lokalen Schauer und Gewitter seien nicht zu verwechseln mit durchziehenden Fronten, die einen großflächigen Wetterwechsel bringen, betont Riemann. Die Stadt mit ihren besonders stark aufgeheizten Steinflächen begünstigt zwar die Entstehung dieser Feierabendschauer. Aber die Großstadt bringe eher kleine Huschen hervor als schwere Gewitter, sagt Riemann: Für Unwetter sei die Luft über Asphalt und Beton zu trocken. In der City gewittert es deshalb seltener als im Umland; statistisch etwa einmal pro Jahr. Dabei widerspricht Riemann gleich einem verbreiteten Irrtum: „Ein Gewitter kommt nie zurück. Das zweite Gewitter ist immer ein neues.“

Bei Freunden am Sacrower See sei das Wetter meist schöner als bei ihm in Charlottenburg, klagt ein Büronachbar. Und eine Kollegin ergänzt, dass es im Havelland oft sonniger sei als daheim in Kreuzberg. Haben die Umländer etwa das bessere Wetter? Haben sie, sagt Riemann. Der Beweis findet sich im historisch wertvollen Buch „Das Klima von Berlin“, das Wissenschaftler der Ost-Berliner Humboldt-Uni mit Unterstützung von FU-Kollegen zum Stadtjubiläum 1987 geschrieben haben. Demnach scheint die Sonne an der Messstelle Berlin-Buch im Jahresdurchschnitt etwa sieben Prozent weniger als beispielsweise in Dahlem und Potsdam. Das entspricht stolzen 114 Sonnenstunden weniger. Dass ausgerechnet der Nordosten der Stadt Trübsal bläst, hat zwei simple Gründe: Zum einen gibt es für die unmittelbare City keine langjährigen Sonnenschein-Messungen. Zum anderen weht der Wind zumeist aus West bis Südwest und schiebt die Wolken schon bei ihrer Entstehung ostwärts. Aber warum bleibt mein durstiger Garten allzu oft trocken, obwohl er nur ein paar Kilometer östlich der Stadtgrenze liegt?, wendet jemand ein. Das schlaue Buch bestätigt den Befund: Sowohl die City als auch das östliche Umland liegen im Regenschatten kleiner Gebirge. Wenn Regengebiete von Westen her übers Land ziehen, verstärken sie sich im Stau der Berliner Höhenzüge, also Grunewald, Müggelberge und Barnim. Überall dort steigt Luft auf, so dass mehr Feuchtigkeit kondensiert und Regen fällt. Dahinter wird es trockener.

Dass die City mehr Schauer abbekommt, aber weniger ergiebigen Dauerregen, zeigt die langjährige Niederschlagsbilanz: rund 620 Liter pro Jahr und Quadratmeter im Grunewald sowie von Pankow bis Marzahn, aber nur gut 580 in Dahlem und nicht einmal mehr 550 am Alex sowie am Flughafen Schönefeld.

„Die Havel ist eine Wetterscheide“, wusste schon Großmutter. Und der Enkel ergänzt: „Wenn es bei Oma am Wannsee zu regnen beginnt, fängt es bei mir in Wilmersdorf eine Viertelstunde später an.“ Riemann gibt dem Enkel recht und korrigiert die Oma: Ein kleiner Binnensee beeinflusse das Wetter so wenig wie eine Autobahn oder ein Acker. Große Regengebiete zögen meist von West nach Ost über die Stadt – und bräuchten dafür zwischen einer halben und zwei Stunden.

In der Stadt ist es doch immer windig, sagen viele. Als stürmischsten Ort nennen gleich mehrere die Rudi-Dutschke- Straße an der Axel- Springer-Passage. Der Meteorologe glaubt es gern und zählt sogleich die Zutaten auf: Lage passend zum häufigsten Wind in Ost-West- Richtung, ungebremst dank glatter Glasfassaden und deutlich verschärft durch die Hochhäuser von Springer und GSW, die quer zum Wind stehen und die Luft zum Ausweichen zwingen. Also pfeift sie durch die Straße wie durch eine Düse. Zum Trost merkt Riemann an, dass dasselbe Phänomen – lange Straßenschlucht mit hohen Häusern – ausgerechnet an den kältesten Wintertagen in Einfallstraßen wie der Landsberger Allee auftrete, so dass der Nordostwind quasi ungehindert von Sibirien bis zum Alex pfeife. Jenseits der Hochhäuser ist der Wind in der Stadt sogar schwächer als auf dem platten Land, weil die Bebauung ihn bremst. Den jüngsten Beweis lieferte die Unwetterfront, die vor gut zwei Wochen von Süden her aufzog: Während am Flughafen Schönefeld fast orkanartiger Wind („hohe Stärke 10“) zerrte, kamen in der City nur einzelne stürmische Böen (Stärke 6 bis 7) an. Versicherungen erstatten Sturmschäden ab Windstärke 8.

Bleibt noch die Temperatur. Ein einfaches Thema für den Meteorologen: Die Innenstadt ist wegen der Häuser nicht nur im Sommer heißer und im Winter milder als der Rand, sondern auch der ideale Ort für Hitzerekorde. In den Wettergeschichtsbüchern stehen noch immer jene 37,8 Grad , die am 11. Juli 1959 bei der FU Dahlem gemessen wurden. Diese Messstelle ist die Berliner Referenzstation. Aber der höhere Wert stammt vom Alex, wo es damals sogar 39,1 Grad heiß wurde.

Am anderen Ende der Quecksilbersäule stehen jene minus 26 Grad, unter denen die Stadt am 11. Februar 1929 ächzte. Riemann würde wetten, dass es an jenem Tag am südöstlichen Stadtrand noch kälter war. „Nur gab es damals die Messstation Kaniswall auf den Gosener Wiesen noch nicht, die alle Voraussetzungen für Kälterekorde erfüllt: kein Haus weit und breit, dafür eine leichte Senke als Kaltluftsammelbecken und die Nähe zu Sibirien, die mehr Abstand zum (wärmenden) Atlantik bedeutet. Bei so extremer Kaltluft zähle jeder Kilometer, sagt Riemann und kramt den Beweis hervor: In Frankfurt (Oder) wurden am selben Februartag vor 84 Jahren sogar minus 32 Grad gemessen. Da froren auch die klügsten Bauern.

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