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ARCHIV - 13.11.2007, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Ein Pfleger hält in einem Pflegeheim die Hand einer Bewohnerin. Absagen vom Pflegedienst, weil es an Fachkräften fehlt; geschlossene Krankenhaus-Stationen, weil das Team unterbesetzt ist: Der Fachkräftemangel in der Alten- und Krankenpflege hat sich den Angaben der Pflegeverbände im abgelaufenen Jahr weiter zugespitzt. Foto: Oliver Berg/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

© dpa

Exklusiv

Personal sollte keine Masken tragen: Corona-Tote in Demenz-WG in Berlin-Spandau – Angehörige stellen Strafanzeige gegen Pflegedienst

Die Pflegedienstleitung soll Corona-Maßnahmen als „totalen Humbug“ bezeichnet haben. Eine weitere Bewohnerin liegt im Sterben.

Werden ältere, pflegebedürftige Menschen ausreichend vor dem Coronavirus geschützt? Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) nimmt die Pflegeheime in die Pflicht, diese seien in der Verantwortung, darauf zu achten, dass Hygienemaßnahmen eingehalten werden. Aber wie sieht es bei Alten-Wohngemeinschaften aus?

Durch die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes vom Januar 2019 ist geregelt, dass ambulante Pflegedienste, die Intensivpflege in Einrichtungen, Wohngruppen und sonstigen gemeinschaftlichen Wohnformen erbringen, die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung von Infektionsübertragungen sicherstellen müssen und auch von den Gesundheitsämtern überwacht werden dürfen.

Nicht überwacht werden dürfen privatrechtliche Wohnformen. So zum Beispiel eine Wohngemeinschaft von demenzkranken Seniorinnen und Senioren in Spandau. Acht Wohnungen sind belegt und werden von einem privaten Pflegeteam rund um die Uhr betreut.

Im Oktober war in der Wohngemeinschaft das Coronavirus ausgebrochen. Eine Frau kam ins Krankenhaus und wurde dort positiv getestet, verstarb später an dem Virus, wie der Totenschein aussagt.

Die Leiche befindet sich zur Obduktion beim Landeskriminalamt, Angehörige haben Strafanzeige gegen den Pflegedienst gestellt – wegen Verdacht auf vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge. Weil dieser die Corona-Schutzmaßnahmen nicht eingehalten haben soll. 

Chefin des Pflegedienstes: „totaler Humbug und totaler Quatsch“

Eine weitere Frau liegt im Sterben, vier Bewohner wurden am 14. Oktober im Krankenhaus positiv getestet. Das Gesundheitsamt untersagte eine Zeitlang den Zutritt für Besucherinnen und Besucher, die Wohngemeinschaft unterlag einer „Kohortenisolation“. Mittlerweile ist diese beendet, das Pflegepersonal getestet und die Wohnung wieder für Besuch geöffnet.

Angehörige berichten, im Laufe des Jahres sei das Pflegepersonal, die Putzfrau, der Koch und Gäste ohne Schutzmaßnahmen wie Masken und Desinfektionsmittel in dem Haus aus und ein gegangen. Obwohl bereits bestätigte Coronainfektionen vorlagen, wurden weiterhin Seniorinnen und Senioren zum Probewohnen vorbeigebracht.

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Die notarielle Betreuerin der Verstorbenen und weitere Angehörige erzählen, die Chefin des Pflegedienstes habe sich über die Coronamaßnahmen lustig gemacht, das sei alles „totaler Humbug und totaler Quatsch“. 

Die Angehörigen sagen, sie hätten durch Zettel auf die Maskenpflicht aufmerksam gemacht, sie wollten das Pflegepersonal dadurch auffordern, diese zu tragen. Doch die Chefin des Dienstes habe die Zettel entfernt und den Mitarbeitern regelrecht verboten, Masken zu tragen. 

Zu einer Logopädin habe sie gesagt, sie möge bloß nicht mit Maske ankommen. Auch die wechselnden Praktikanten würden keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen. Desinfektionsmittel sei nicht vorhanden.

Angehörige beschwerten sich bei Amtsärztin

Als der Tagesspiegel den Pflegedienst in einer E-Mail mit den Vorwürfen konfrontiert, Fragen stellt und um ein Gespräch bittet, antwortet eine Anwaltskanzlei. Alle Annahmen seien nicht zutreffend, der Pflegedienst beantwortet keine Fragen.

Spandaus Amtsärztin bestätigt auf Nachfrage, dass seit Mitte September zahlreiche E-Mails der Angehörigen eingetroffen waren, die hygienische Mängel in der Wohngemeinschaft beklagten. 

Da es sich um eine privatrechtliche Wohnform handelt und keine Intensivpflege erbracht werde, habe man jedoch keine Befugnis, hier etwas zu unternehmen. Es handele sich um eine Lücke im Gesetz, auf die seit Jahren hingewiesen werde.

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Das Ordnungsamt, das Sozialamt und die Heimaufsicht waren über die Mails informiert. Die Senatsverwaltung für Gesundheit will sich auf Nachfrage nicht zu dem Fall äußern. Am 7. Oktober hatte die Heimaufsicht der Senatsverwaltung eine Begehung der Wohngemeinschaft durchgeführt. „Hierbei konnten offenbar keine Hygienemängel festgestellt werden“, sagt Spandaus Amtsärztin. Der Besichtigungstermin erfolgte angekündigt. 

Keine Masken, dafür ein Grillfest

Das Ordnungsamt habe jedoch Verstöße gegen die Maskenpflicht festgestellt, das Bußgeldverfahren laufe noch. Bereits Ende April hatte im Garten der Wohngemeinschaft ein Grillfest stattgefunden, das Ordnungsamt war nach einem Anruf der Angehörigen vor Ort und hatte dieses aufgelöst.

Eine Prüfung des Sozialamtes ergab: „Die gesamte Beschwerdelage deutet am ehesten auf erhebliche Pflegemängel und Schwierigkeiten zwischen einigen Bewohnern, vertreten durch ihre Angehörigen, und der Pflegedienstleiterin hin.“ Den Angehörigen wird empfohlen, selbst Strafanzeige zu erstatten sowie den Pflegeanbieter zu wechseln.

Aus Gesprächen mit den Angehörigen geht hervor, dass es zwischen ihnen und der Chefin des Pflegedienstes noch andere Streitigkeiten gibt, bezüglich angeblichen falschen Abrechnungen zum Beispiel. „Wir möchten, dass diese Frau in den Knast geht“, sagt die Betreuerin der Verstorbenen.

Sie sei skrupellos. Von den Coronafällen in der Wohngemeinschaft hätten sie immer entweder von anderen Angehörigen oder vom Krankenhaus erfahren, niemals jedoch vom Pflegedienst selbst.

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