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Im Kreis der Familie. Um Kinder, die eine Trennung der Eltern erlebt haben, geht es in dem Buch „Und was wird jetzt mit mir? Scheidung – Die besten Antworten auf wichtige Kinderfragen“ von Arne Jorgen Kjosbakken, Dialika Neufeld, Jan von Holleben (Gabriel Verlag, 9,99 Euro). Daraus stammt das Foto.

© Jan von Holleben/promo

Patchwork und Co: Ausweitung der Familienzone

Zwei Väter, drei Mütter und vier Kinder: In dieser Familie ist alles etwas ungewöhnlich. In den Urlaub fahren trotzdem alle zusammen

Der Höhepunkt des Urlaubs ist der Abend auf dem Dorffest: Die ganze Familie gemeinsam an einem Tisch unter Bäumen, irgendwo in der Provence. Sie lachen, essen und trinken, später tanzen sie noch mit den Dorfbewohnern um einen Brunnen. Mehr Idylle gibt's nur in der Werbung. Auf dem Tisch steht ein Schild mit der Aufschrift „Familie Wenniger“. Und irgendwie sind sie das auch: eine Familie. Nur dass man hier mit der Vorstellung der klassischen Kleinfamilie nicht besonders weit kommt.

Hannah hat eine "erweiterte Elterngruppe"

Manchmal gerät Paul Wenniger, 48, der eigentlich anders heißt, sogar selbst ins Schleudern. Wenn man ihn fragt, wie viele Kinder er hat, sagt er mal zwei, mal drei und auch mal vier. Es ist kompliziert. Mit seiner Frau Franziska hat er zwei gemeinsame Kinder, den siebenjährigen Henri und die vierjährige Tilda. Aber die neunjährige Hannah ist eben auch noch da. Seitdem sie eineinhalb ist, lebt sie jeweils die halbe Woche bei ihm und Franziska, ihrer Mutter. In gewisser Weise war Hannah also das erste Kind für Wenniger. Und irgendwie fühlt er sich auch wie ihr Vater. Aber kann man das so sagen? Sie hat ja schon einen Vater, nämlich Jan, Franziskas Ex-Mann. Aber „Stieftochter“, das hört sich auch nicht richtig an. Wenniger findet, dass Hannah einfach eine „erweiterte Elterngruppe“ hat. Und das trifft wohl auch auf Lena zu, deren Namen wir wie die aller anderen Kinder für diese Geschichte geändert haben. Damit die sich möglichst frei erzählen lässt, werden auch die Erwachsenen nur mit ihren Vornamen genannt.

Lena ist Wennigers Tochter und sechs Jahre alt, hat aber noch nie bei ihm gelebt. Das war auch nie geplant. Wenniger hatte sich als biologischer Vater angeboten, als ein befreundetes lesbisches Paar eine Familie gründen wollte. Im Alltag sieht Wenniger, der in Hamburg an einem Gymnasium Latein und Geschichte unterrichtet, Lena und ihre Mütter Daniela und Inken nicht besonders oft, weil diese in Berlin leben. Trotzdem wünschen sich alle, in Kontakt zu bleiben und Zeit miteinander zu verbringen. Zum Glück gibt es die Ferienzeit. Ferien, das heißt für Wenniger schon lange: Ab nach Frankreich, in das Haus in der Provence, das sein Vater vor 40 Jahren dort gekauft hat und das bis heute im Besitz der Familie ist. Dort lange, faule Wochen unter dem strahlenden Blau des Provence-Himmels verbringen. Solange das Haus im Besitz der Familie ist, war es voller Leben. Wenniger hat noch drei Geschwister, alle kamen sie gerne, und jeder brachte noch jemanden mit. „Ich bin aufgewachsen mit dem Gefühl, dass zu einer Familie viele gehören“, sagt er.

Konnte er alle vier Kinder nach Frankreich mitnehmen?

Und wenn er heute in die Provence aufbricht, dann sollen wieder viele – am liebsten sogar alle, die ihm wichtig sind – dabei sein. Aber können er und seine Frau Franziska einfach alle Kinder für vier Wochen nach Frankreich entführen? Was ist mit Hannah? Sie können Jan ja schlecht sagen, dass er seine Tochter vier Wochen lang nicht sieht. Da ist es doch viel besser, wenn er auch gleich mitkommt. Sie begegnen sich ja sowieso ständig, weil Hannah jede Woche zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater pendelt.

Jan und Paul Wenniger haben ein entspanntes Verhältnis. Jan sagt zu, mit nach Frankreich zu kommen. Und nicht nur das: Er zieht es sogar vor, zusammen mit Wenniger im Auto anzureisen, anstatt sich alleine in den Zug zu setzen oder mit Franziska und den Kindern zu fliegen.

Und die Co-Familie aus Berlin – das lesbische Paar Daniela und Inken mit Tochter Lena, ist auch mit von der Partie. Als die drei am Ferienhaus ankommen, verschwindet Lena sofort mit ihrem Halbbruder Henri irgendwo auf dem Grundstück. Dabei ist sie sonst eher schüchtern. Die Kinder verstehen sich so gut, dass die Eltern sich schon fragen, ob da vielleicht doch die Genetik durchschlägt. Es kann aber auch daran liegen, dass Lena und Henri fast gleich alt sind.

Der Vater sollte kein Wildfremder sein

Das ist kein Zufall. Wenniger hatte damals schon länger gewusst, dass seine gute Freundin Daniela und ihre Partnerin Inken sich sehnlich ein Kind wünschten. Er bekam auch mit, wie kompliziert die Suche nach einem Vater verlief. Obwohl Daniela ihn nie direkt danach fragte, fing es an, in ihm zu arbeiten. „Wir waren so gut befreundet, dass ich mir das vorstellen konnte“, erzählt er. Die Alternative, dass der Vater nur eine Karteikarte wäre, ein fremder Samenspender, den das Kind erst mit 18 Jahren kennenlernen würde, fand er gruselig.

Anfangs traute er sich aber nicht selbst zu, Vater eines Kindes zu werden, das er nicht großziehen würde, und das sogar in einer anderen Stadt leben würde. Das sei ihm zu dem Zeitpunkt emotional zu riskant erschienen, sagt er. Er hatte Angst davor, zu starke Vatergefühle zu entwickeln, weil er noch keine eigenen Kinder hatte. Erst als seine Frau Franziska mit ihrem gemeinsamen Sohn Henri schwanger war, änderte sich das. Franziska war auch einverstanden mit der ungewöhnlichen Co-Eltern-Konstellation.

Als Wenniger zu Daniela sagte: „Jetzt würde ich es machen“, wusste sie erst gar nicht, was er meinte. Aber dann ging alles ganz schnell. Ein Becher, ein Taxi, ein Bett, und Lena war unterwegs. Danielas Partnerin Inken trug das Kind aus. Wenniger ist überzeugt, dass es der richtige Moment für diesen Schritt war. „Franziska und ich hatten das Gefühl, dass bei uns alles so gut lief, dass wir noch genug zum Abgeben hatten". Wobei, abgeben, vielleicht trifft es das gar nicht. "Es ist ja ein schönes Gefühl, Nachkommen zu haben“, sagt Wenniger. Er fühle sich beschenkt durch Lena. Und die kann heute allen sagen: „Klar habe ich einen Vater. Der heißt Paul und wohnt in Hamburg.“

Daniela sagt, sie sei ihrem Freund Paul unendlich dankbar, dass er das für sie getan habe. Trotzdem ist sie ganz froh, dass einige Kilometer zwischen der Wohnung im Hamburger Schanzenviertel und ihrer eigenen in Prenzlauer Berg liegen. Sie ist eben nicht Lenas biologische Mutter. „Inken und ich erziehen Lena komplett gleichberechtigt, aber für manche bin ich trotzdem in so einer Anhängsel-Position“, sagt sie. Nicht alle würden verstehen, dass Lena zwei Mütter als Eltern habe. Dadurch, dass der Vater im Alltag aber so gut wie nie präsent sei, fühle sie sich in ihrer Position gestärkt.

Für Lena ist klar, dass Mami und Mama ihre Eltern sind

Dass es bei den Wennigers die meiste Zeit so gut läuft mit der Patchwork- und der Co-Familie, liegt wohl auch daran, dass sie sich vorher ausführlich damit beschäftigt haben, was auf sie zukommt. Wenniger besprach mit einer Anwältin und einem befreundeten Psychotherapeuten, was ihn rechtlich und emotional erwarten würde. Mit Daniela und Inken war er sich einig, dass er zwar der biologische Vater des Kindes werden, die klassische Vaterrolle aber nicht übernehmen würde. Ein halbes Jahr nach der Geburt hat Daniela Lena adoptiert und damit alle Rechte und Pflichten der Elternschaft von Wenniger übernommen.

Aber bei aller Vorbereitung: Wie fühlt sich ein Vater nach so einem Urlaub, in dem er von morgens bis abends mit seiner Tochter zusammen ist, die sonst so viele Kilometer von ihm entfernt wohnt? Entsteht da nicht doch eine Verbundenheit, von der man nach den Ferien nicht wieder lassen möchte? „Es überrascht mich manchmal selbst“, sagt Wenniger, „aber daraus erwachsen keine emotionalen Ambivalenzen oder Unsicherheiten.“ Er genieße es, mehr Zeit mit Lena zu verbringen, aber er sei in seiner Hamburger Familie nun mal fest verankert. Lena geht es nicht anders. Für sie ist klar, dass ihre Mama und ihre Mami ihre Eltern sind. Daran ändert auch ein Urlaub mit dem biologischen Vater nichts.

Dass das nicht immer so bleiben muss, wissen Lenas Eltern. Wenniger glaubt, dass sich spätestens in der Pubertät etwas ändern könnte, wenn das Verhältnis zu den Eltern auch in jeder anderen Familie neu ausgehandelt wird. „Ich kann mir gut vorstellen, dass in ein paar Jahren eine wütende 15-Jährige vor meiner Tür steht“, sagt er. Für die will er dann auch da sein: „Natürlich habe ich eine emotionale Verantwortung für Lena. Die bleibt auch bestehen, egal, was wir Erwachsenen miteinander verabredet haben.“ Lenas Adoptivmutter Daniela sieht das ähnlich: „Wenn sie irgendwann zu Paul will, dann darf sie gehen.“

Auch Wennigers 77-jährige Mutter hat Lena und ihre Mütter herzlich in die Familie aufgenommen. Sie schickt ihrer Enkelin jedes Jahr ein Geburtstagspäckchen nach Berlin. Und für die anderen Kinder in der Patchwork-Familie ist all das ganz normal: Die neunjährige Hannah will später ihre beste Freundin heiraten und ein Kind mit ihr haben. Den Vater haben sie auch schon ausgesucht: Den Job darf der Nachbarsjunge machen.

Tipps und Literatur:

EXPERTENRAT

Der Familiensoziologe Hans Bertram sagt, dass zwei Voraussetzungen erfüllt sein sollten, damit in Patchwork-Familien keine zusätzlichen Konfliktlinien entstehen: Zum einen sollten die finanziellen Verhältnisse klar sein, damit keine Abhängigkeiten entstehen. Am ehesten funktioniere das, wenn alle

ökonomisch auf eigenen Füßen stehen. Zweitens müssten die Beziehungen zwischen allen Personen klar geregelt sein. Denn auch die jeweiligen Lebensgefährten müssen akzeptieren, dass ihre Partner noch in anderen für sie wichtigen Beziehungen

stecken. Wenn das gewährleistet sei, könnten solche Patchwork-Konstellationen gut funktionieren. „Komplexe Familienverhältnisse hat es schließlich schon immer gegeben, nur wir haben uns an das Familienbild der wohlgeordneten sechziger Jahre gewöhnt“, sagt Bertram. Letztlich könne die Vielfalt der Beziehungen sogar entlastend wirken: „Zum Beispiel ist es in Konfliktsituationen durchaus so, dass sich die Beteiligten in größeren Gruppen mehr zusammenreißen.“

KINDERBUCH

In dem Sachbuch „Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten“ von Alexandra Maxeiner und Anke Kuhl geht es um alle möglichen Formen des Familienlebens: Alleinerziehende, Patchworkfamilien in verschiedenen Mixturen, Regenbogen-, Kinderdorf- und Adoptivfamilien. Kinder lernen in dem Buch auf lustige Weise auch etwas über Bluts- und Wahlverwandtschaften, Einzelkinder und Geschwisterstreit. Klett-Kinderbuch, 13,95 Euro, ab 5 Jahre.

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