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Martin Keune (1959-2017)

© privat

Nachruf auf Martin Keune (Geb. 1959): "Wo ich jetzt bin, werdet Ihr bald sein. Tut vorher, was getan werden muss"

Er war Pflastersteinmaler, Kellner und Stuckateur. Gagschreiber und Schriftsteller. Werbeprofi und Flüchtlingspate. Der Nachruf auf einen, der nicht zögern konnte.

Keinen Uniabschluss, keine Berufsausbildung, nicht einmal einen Führerschein hatte er. Viel zu langweilig, diese Überei, dieses Rumsitzen, das wäre nichts für ihn gewesen. Er wollte auch nichts werden, hatte keinen Karriereplan oder ein großes Ziel, das er unbedingt erreichen musste. Er hat einfach angefangen, Dinge zu tun, und hat nie damit aufgehört.

Vielleicht lag es an seiner Mutter, die alles mit einer ungeheuren Intensität machte. Die Garderobe für ihre beiden Söhne? Strickte sie. Den Teppich? Knüpfte sie. Die Musik? Spielte sie selber. Der Vater war in der SPD, kümmerte sich um ausgebeutete Fabrikarbeiter, schimpfte über jede Ungerechtigkeit, gründete eine Fotogilde und legte einen Wald an, in dem frisch Verheiratete einen Baum pflanzen konnten.

In dieser Macher-Familie wuchs Martin auf. Im Sauerland war das, im Städtchen Kierspe. Zur Schule ging es durch den Wald, an der Hand den kleinen Bruder, um den kümmerte er sich viel. So war das damals, die Eltern machten ihrs und die Kinder auch. Martin jagte durch die Wildnis oder zeichnete mit Tinte. Er las die Dorfbibliothek leer oder ärgerte als Schülersprecher seine Lehrer. Er organisierte einen Mensaboykott gegen das schlechte Essen oder schrieb groß auf die Straße: „Solidarität mit den Völkern Afrikas“.

Nix Amerika

Abi und ab, raus aus der Provinz und per Anhalter nach Berlin. Seine ersten Nächte verbrachte er auf einer durchgelegenen Couch in einem Kreuzberger Besetzerhaus. Eigentlich sollte Berlin nur ein Zwischenstopp sein, ein halbes Jahr, dann in die USA, Zivildienst im Ausland, den Platz hatte er schon. Doch er geriet in eine Polizeirazzia. Dabei wollte er nur eine Wohnung-Gesucht-Anzeige aufgeben – allerdings in der verbotenen Autonomen- und Hausbesetzerzeitung „Radikal“. Also saß er da und diktierte dem Redakteur seine Wohnwünsche, als die Polizei die Tür aufsprengte, Schreibmaschinen, Druckmaschinen und auch Martin mitnahmen. Nix Amerika. Der junge Mann mit den langen roten Haaren musste in Berlin bleiben.

Schlug er sich eben als Pflastersteinmaler durch. Mit Kreide malte er große Bilder vors „Café Kranzler“, Spenden bitte in die Mütze. Außerdem arbeitete er als Kellner und Stuckateur, zeichnete Comics für eine Satirezeitung. Im Wedding besetzte Martin mit anderen ein Haus; es war das erste im Bezirk. Damit sie für ein Bier nicht ins ferne Kreuzberg fahren mussten, gründeten sie das Besetzercafé „Barrikade“. Es wurde eine Legende, jahrzehntelang offen und Anlaufstelle für alle sehr Linken West- Berlins. Bier war billig, Gras vorhanden, sie planten die Weltrevolution und diskutierten die Gewaltfrage, organisierten heimliche Aktionen und Demonstrationen, schrieben Flugblätter gegen den Innensenator, gewährten Obdachlosen und Junkies Unterschlupf.

Ein Freund erinnert sich, wie Martin Keune in seiner WG in Bielefeld aufkreuzte. Sie saßen den Abend in der Küche, tranken Rotwein und regten sich über einen Nachbarn auf. Wie er es wagen konnte, in seinem Schrebergarten eine Bayern-Fahne zu hissen. Unmöglich, da muss man doch etwas tun. Sie redeten und redeten und gingen erschöpft schlafen. Am nächsten Morgen lag die Fahne mit den blauweißen Rauten auf dem Küchentisch. Martin war einfach über den Gartenzaun gestiegen.

„Erst kommt das Kind, dann komme ich, und irgendwann kommst du“

Seine Freundin hatte ihn gerade sitzengelassen für einen Zahnarzt. Er betrank seinen Kummer mit viel Rotwein. Doch so konnte es nicht weitergehen. Seine Freunde hakten ihn unter und verabredeten sich zum Doppelkopfspiel. Mit dabei war Tina, Studentin, Berlinerin. Sie fand Martin nett und interessant, mehr erstmal nicht. Martin rief sie am nächsten Tag an und fragte, was sie denn als Nächstes machen wollten, raus zum Teufelssee vielleicht? Diese Verbindlichkeit fand sie toll. Sie ließ sich begeistern von diesem Mann, der immer in Bewegung war und den Mut hatte, Dinge einfach zu machen.

Tina brachte die Bodenständigkeit in die Beziehung. Hatte auch schon einen Sohn. Als Martin sich darüber beschwerte, dass so ein Kind ja sehr früh aufstehen würde, mitunter sogar nachts ins Bett gekrochen kam, gab’s eine Ansage: „Erst kommt das Kind, dann komme ich, und irgendwann kommst du.“ Rumms. Martin brauchte diese Ansagen; das erdete seinen Freigeist. Nach nur einem halben Jahr wurde Tina schwanger, Martin freute sich, war aufgeregt und malte ein Bild: ein schwangerer Martin. Zwei Söhne bekamen sie.

Das Kümmern fiel in Tinas Bereich. Das Machen in Martins. Riesige Murmelbahnen aus Pappkartons bauten sie im Wohnzimmer. Als einer der Söhne schwer krank wurde, sechs Wochen im Krankenhaus lag, war Martin jede Nacht da, um ihm die Flasche zu geben. Hin und zurück fuhr er mit dem Taxi. Was sind schon 1000 Mark Fahrgeld?

Mit 25 fing Martin bei der Firma Hahn-Film an, hier entstanden die Werner- und Benjamin-Blümchen-Filme und einer mit Asterix. Er schrieb Gags und Drehbücher, malte Kulissen und Hintergründe. Es machte Spaß, doch er verdiente wenig, war als Selbstständiger nicht abgesichert. Gleichzeitig häuften sich bei Tina und ihm die Anfragen: Könnt ihr nicht einmal eine Anzeige, einen Flyer, eine Visitenkarte gestalten? So machten sie die Werbeagentur „Zitrusblau“ auf, 1989 war das. WWF, Campact, Nabu, die Grünen, die Linken, Bio-Lebensmittel, Solarwirtschaft, gegen Atomkraft, gegen Kohle, gegen Neonazis. Er war der Kreative, der sich traute, provozierte und Neues probierte. Sie kümmerte sich darum, dass die Kasse stimmt und die 17 Mitarbeiter bezahlt werden können.

Er stand nie still

Einer von ihnen, ein 33 Jahre alter Grafiker, sitzt im Rollstuhl. Er kann nur die Finger seiner rechten Hand und seinen Kopf bewegen. Dieser Mann wollte raus aus der Behindertenwerkstatt und was aus sich machen. Eines Tages fuhr er also in das Büro von Martin und sagte: Ich möchte bei euch als Praktikant anfangen. Martin nahm ihn, Praktikum, Ausbildung, Festanstellung. Was einfach klingt, war ein Kampf mit den Behörden. „Ich brauchte drei ganze Monate, um das Prinzip zu verstehen, nach dem hierzulande mit Behinderten umgegangen wurde. Es war das Prinzip der grundsätzlichen Nichtzuständigkeit“, schrieb er dann in seinem Buch „Vollspast“ über diese Erfahrung. Überhaupt schrieb und veröffentlichte Martin viel: Reisebücher, Restaurantführer, Krimis, einen Tatsachenroman.

Er stand nie still. 2004, ein neunjähriger Junge auf dem Fahrrad, ein Lkw, der tote Winkel, der Junge starb. Martin fuhr mit seinem Sohn, ebenfalls neun, an der Unfallstelle vorbei. Er sah die Blumen und Kerzen und war berührt. Er machte eine Spendenaktion, kaufte 100 Zusatz-Seitenspiegel für Lkw’s und bot sie Speditionen an. 2014 fuhr er mit seiner Frau am Lageso vorbei. Sie sahen die Flüchtlinge in den langen Schlangen, morgens, mittags und abends, bei Hitze und bei Kälte.

Zwei von ihnen nahmen sie bei sich auf und mit ihnen jede Menge Sorgen und Ängste um die verbliebene Familie in Syrien. Wie konnte man sie nach Deutschland bringen? Per Familiennachzug, Voraussetzung: eine Fünfjahresbürgschaft. Martin gründete mit anderen den Verein „Flüchtlingspaten Syrien“. Sie mobilisierten 4300 Spender, die es 250 Menschen aus Syrien ermöglichten, nach Berlin und Brandenburg zu kommen.

Dieser Martin Keune ist im Dezember 2017 nach drei Monaten Krankheit gestorben. Für seine Frau, seine Kinder, seine Freunde und seine Familie hat er diese letzten Worte verfasst: „Lebt Euer Leben aus vollem Herzen, mit hochgekrempelten Ärmeln. Wo ich jetzt bin, werdet Ihr bald sein. Tut vorher, was getan werden muss. Esst jede Portion Spaghetti, als ob es die erste wäre. Hört auf den Regen. Lasst Euer Auto stehen. Rettet alles, was lebt. Lebt wohl.“

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