zum Hauptinhalt
Institution in Flammen. Musik-Bading war eines der letzten Traditionsgeschäfte an der Neuköllner Karl-Marx-Straße.

© Christophe Gateau/dpa

Nach Angriffen auf Rettungskräfte: Berliner zeigen sich solidarisch - und fordern härtere Strafen

Nach den Attacken auf Rettungskräfte diskutiert der Innenausschuss über Anzeigen von Amts wegen. Haben Sie bewegende Retter-Erlebnisse? Schreiben Sie uns!

„Das sind Leute, die nicht vor Augen haben, dass sie selbst vielleicht auch mal dringend Hilfe brauchen und dann froh sind, dass wir schnell kommen.“

(ein Feuerwehrmann, Berlin)

Die Attackierer halten in Neukölln eine Böllerbatterie schräg und feuern gezielt auf Unbeteiligte. In Lichtenrade schlägt ein Täter einem Freiwilligen Feuerwehrmann aus dem Nichts ins Gesicht. Andere Störer schießen Raketen absichtlich auf Rettungsfahrzeuge, bis deren Scheibe zerspringt: Es waren bislang so nicht gegenüber der Öffentlichkeit bilanzierte Attacken gegen Rettungskräfte, Polizisten und Feuerwehrleute, die zum Jahreswechsel 2017/18 bekannt wurden. Sie machten Betroffene, aber auch viele Berliner fassungslos. Allein acht Angriffe auf Einsatzkräfte und 57 Attacken gegen Einsatzfahrzeuge bilanzierte die Berliner Feuerwehr zum Neujahrstag. Dabei wurden, wie berichtet, Rettungssanitäter sogar mit Schusswaffen bedroht.

Eine Verrohung, die die Helfer und ihre Arbeitgeber vor neue Herausforderungen stellen – und die es womöglich künftig sogar erschwert, Nachwuchs bei der beruflichen und freiwilligen Feuerwehr zu finden, befürchtet Feuerwehr-Präsident Hartmut Ziebs.

Die Dunkelziffer ist groß

Für so eine Bilanz waren im Nachhinein etliche Einsatzkräfte dankbar. Endlich sei dieser Irrsinn mal dokumentiert worden, hört man von vielen. Wobei es eine große Dunkelziffer gibt, denn nicht jeder Attackierte kann sich die Zeit nehmen, die Polizei zu rufen – geht es doch um Sekunden und Minuten bei der Rettung. Es gab nach den Schreckensmeldungen auch etliche Mails an die Feuerwehr, in denen Bürger Solidarität mit den Einsatzkräften und Entsetzen bekundeten.

Es wäre alles kein Problem, wenn endlich einmal das mögliche Strafmaß angewandt werden würde. Die gesetzlichen Vorgaben sind doch da! Warum werden sie nicht ausgeschöpft?

schreibt NutzerIn juppjupp

Auch die Parlamentarier im Abgeordnetenhaus werden sich mit den Angriffen auf Einsatzkräfte befassen. „Bei Mitgefühl und Solidarität kann es nicht bleiben. Wir fordern Maßnahmen“, sagte Heiko Melzer, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion. Sie wollte auf der Plenarsitzung am heutigen Donnerstag über ihren Dringlichkeitsantrag „Keine Toleranz von Angriffen auf und Gewalt gegenüber unseren Einsatzkräften“ diskutieren. Rot-Rot-Grün lehnte aus formalen Gründen die Dringlichkeit ab, der Antrag wurde vorab in den Innenausschuss überwiesen, wo er noch im Januar diskutiert und dann im Plenum abgestimmt wird.

"Es reicht!" schreibt Sascha Guzy

Die CDU fordert, „mit aller Härte“ gegen Straftäter vorzugehen. Dienstbehörden sollten viel mehr Anzeigen erstatten, um Haftbefehle zu erwirken. „Wir brauchen den Standard, dass Anzeigen von Amts wegen erstattet werden, um Straftaten aufzuklären und Täter konsequent und zügig zu bestrafen“, sagte Melzer. Auch Sicherheitskonzepte für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Feuerwehr, Polizei und Rettungskräften müssten entwickelt werden.

Sehr drastische Worte wählte in einem „Offenen Brief“ auch der Vorsitzende des Landesfeuerwehrverbandes Berlin, Sascha Guzy. „Ein gezieltes Auflauern und Beschießen von Einsatzfahrzeugen und Rettungskräften scheinen Normalität und gehören für gewisse Individuen mittlerweile zum Silvesterbrauch. Hier ist die ganze Härte des Rechtsstaats gefragt! Ich könnte kotzen, wie wir uns jedes Jahr anbiedern und um keine Gewalt gegen Einsatzkräfte betteln oder dazu Kampagnen für viel Geld gestartet werden. Wie lange sollen Einsatzkräfte noch ihre Gesundheit und ihr Leben durch solche Verbrecher gefährden lassen?!“

Und weiter: Der Bund hatte für härtere Bestrafungen bei Gewalt gegen Einsatzkräfte die Voraussetzungen angepasst, erwartet werde nun eine Umsetzung durch die Behörden. „Wer mit Feuerwerkskörper gezielt auf Mensch oder Tier schießt, begeht Mordversuch! Wer dazu noch Rettungskräfte angreift, greift auch unseren Rechtsstaat an. Das ist mit Terrorismus gleichzusetzen! Dass diese Gewalt dermaßen zugenommen hat, ist erschreckend und beschämend zugleich. Selbst vor Bedrohungen mit scharfen Schusswaffen wird nicht mehr zurückgeschreckt“, schreibt Guzy unter dem Motto „Es reicht!“.

Deeskalationstraining ist Teil der Feuerwehrausbildung

Feuerwehr-Pressesprecher Thomas Kirstein sagte auf Tagesspiegel-Anfrage, es werde schon in der Ausbildung, aber auch in Fortbildungen ein Deeskalationstraining angeboten. Auch das Einsatznachsorgeteam sei wichtig. Er appelliere an Kollegen, solche Fälle, die berlinweit geschähen, zu melden. Die Arbeits- und Gesundheitsschutzabteilung sei mit einbezogen. Dass viele Bürger gegenüber Feuerwehr und Polizei nicht mehr wie früher Respekt besäßen, sei auch eine Folge der Veränderung der Gesellschaft. Unterdessen hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung ein Papier zu Prävention, Meldung und Therapie bei Übergriffen auf Einsatzkräfte herausgegeben.

Tut uns leid. Der zerstörte Musikladen, voller Beileidszettel.
Tut uns leid. Der zerstörte Musikladen, voller Beileidszettel.

© Madlen Haarbach

Solidarität mit Musik-Bading

Für das Silvester nach einem Angriff mit Feuerwerkskörpern völlig ausgebrannte Neuköllner Musikaliengeschäft Musik-Bading zeigen nun viele in Berlin Solidarität. Das Lebenswerk der hochbetagten Inhaberinnen Brünhilde Schibille und ihrer Schwägerin Liane Bading liegt in Trümmern. Viele Zettel kleben an den verrammelten Fenstern des Geschäftes, auf denen Nachbarn und Kunden ihre Trauer und Solidarität mit den Betreiberinnen erklären.

Auf Facebook gründete sich die Gruppe „Solidarität mit dem Bading Musikhaus“, deren mehr als 300 Follower wollen sich zur Unterstützung des Ladens vernetzen. Zuletzt fanden mehrere kleine Aktionen vor dem Laden statt, am Dienstag brachte etwa Drehorgelspielerin „Primel Paula“ alias Angelika Goldlust-Brozinski wieder Musik – zumindest vor das Geschäft.

Rathaus Neukölln würde eventuelle Spendenkampagne unterstützen

Bislang ist unklar, ob und wie der Laden wieder eröffnet. „Ich habe mit den Betreiberinnen vereinbart, dass sie sich bei mir melden, sobald sie eine Entscheidung getroffen haben“, sagt Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Wenn demnächst klar werde, ob die Versicherung aufkomme, entscheide sich, welche Unterstützung gut wäre. „Sollte die Familie eine Spendenaktion starten, unterstützen wir sie als Rathaus gerne dabei“, so Giffey.

Bei ihr haben sich viele Menschen gemeldet, die als Handwerker ihre Gratis-Unterstützung beim Wiederaufbau anbieten. Wer dem Musikhaus helfe wolle, könne sich an das Bürgermeister-Büro wenden, das Hilfeangebote weiterleitet: Tel.: 030 902392300 oder per E-Mail an bzbm@bezirksamt-neukoelln.de. Ein Fünkchen Hoffnung bleibt, dass das Musikhaus wieder öffnet.

Viele Berliner sind zutiefst verärgert darüber, dass Helfer so aggressiv und feige angegriffen werden. Wir wollen Feuerwehrleute, Polizisten oder auch Sanitäter würdigen. Schreiben Sie uns kurz Ihre bewegendsten Retter-Erlebnisse: Wie wurde Ihnen geholfen, was macht Sie dankbar (auch bei Musik-Bading)? Schreiben Sie an: menschenhelfen@tagesspiegel.de, Stichwort "Gerettet".

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false