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Berlin: Margot Reinicke (Geb. 1932)

„Meine Generation spricht nicht über Gefühle“

Warum ihre Großmutter nicht mit zurück nach Berlin kommen konnte, hat Margot Reinicke nie verstanden. Es bedeutete: Von nun an war sie ganz auf sich allein gestellt.

Margot Reinicke ist 13, als sie im Herbst 1945 in das zerstörte Berlin zurückkehrt. Die Mutter ist früh gestorben, der Vater, den sie verehrt, in Russland verschollen, und ihre Großmutter muss sie zurücklassen in einer Kurhotelküche an der Ostsee. Margot zieht zu ihrer Tante in den Wedding, einer strengen Frau mit viel Geld und wenig Herz. Als Margot einen Jungen auf der Türschwelle küsst, kippt die Tante einen Eimer kaltes Wasser aus dem ersten Stock über die Liebenden. Um ihren eigenen Wünschen nachzugehen, muss Margot sich verstecken oder weglaufen. So etwas prägt ein Leben. Vielleicht deshalb gibt ihr die Kamera später so viel Halt. Die Welt durch eine Linse zu betrachten bedeutet auch, die Welt auf Abstand halten.

Erst einmal aber rennt die 17 Jahre alte Margot dem Schneider Karl in die Hände. Ost-Berliner, Hobbyboxer mit einer Tolle über der Stirn, die ihn verwegen aussehen lässt, – und doppelt so alt wie Margot. Er schenkt ihr Salamibrote und trotz des Altersunterschieds ist Karl für die junge Frau ein Glücksgriff, eine Chance, von der Tante fortzukommen. Also küssen die zwei sich heimlich, dann heiraten sie. Auf ihrem Hochzeitsfoto hält Margot einen Strauß Rosen im Arm, die dunklen Haare hat sie zur Seite gescheitelt, sie schaut zufrieden in die Kamera. Margot zieht aus und wird mit ihrem ersten Kind schwanger. Es ist nicht das Traumleben, in das sie nun hineinstolpert, aber es ist ihr eigenes Leben. Und sie ist nicht mehr alleine.

Mit Karl findet sie eine kleine Wohnung am Bayerischen Platz, sie arbeitet jetzt in einer Schneiderei. Was ihr wichtig ist: Struktur. Sie macht das Frühstück, arbeitet, kümmert sich um die Kinder, kocht. Jeden Sonntag backt sie Pflaumenkuchen mit viel Öl und ohne Backpapier, am Wochenende wird gemeinsam gespielt. Ob sie das gerne gemacht hat, fragen ihre Kinder sie später. „Es gehörte eben dazu“, antwortet sie. „Mutterpflicht.“

Es ist Ende der fünfziger Jahre, als sie beginnt zu fotografieren: Alltagsszenen, Standbilder, Begegnungen. Sie bekommt ein zweites Kind, und die Familie fährt erstmals in den Urlaub, zuerst mit dem blauen Opel und Zelt an die Ostsee und nach Österreich, später mit einem schwarzen Wagen nach Südfrankreich. Durch ihre Kameralinse sieht Margot eine Familie, die nah zusammenrückt, Vater, Mutter, Kinder, Auto. Es sind Bilder wie aus der Werbung.

Zu Hause erfüllt Margot weiter die Mutterrolle. Als sie die Schneiderei schließen müssen, fängt sie bei einer Speditionsfirma an zu arbeiten. Wenn die Familie im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzt, steht Margot in der Küche und kocht. Sie räumt auf und putzt. Nur mit der Kamera kann sie sich zurückziehen, nur dort ist sie mit sich alleine. Sie konzentriert sich jetzt mehr auf Details, fotografiert Dinge, die auf der Straße liegen, Tiere, Insekten, vermeintlichen Müll. Von ihrem Sohn lässt sie sich in die Oper ausführen, ins Theater, zum Tanzen. Als er an der Universität angenommen wird, klammert sie sich fest an den jungen Mann, als würde er nun ein Leben führen, das sie immer vermisst hat. Gemeinsam reisen sie nach Rumänien, nach Jugoslawien, nach Tunesien.

1989 stirbt ihr Mann. Kurze Zeit später kauft sie sich eine Leica. Es ist die erste Kamera, die sie ganz allein besitzt. Jahrelang hatte sie gespart, nach dem Tod ihres Mannes ist dann plötzlich genug Geld da. Mit dem Erbe ihrer Tante kauft sie sich ein kleines Reihenhaus in Marienfelde, sie trifft sich mit Männern und findet schnell einen, der ihr gefällt. Heinz heißt er und mit ihm geht sie nun regelmäßig zu Foto-Vereinen, nimmt an Wettbewerben teil. Beim Fotografieren konzentriert sie sich auf die ganz kleinen Dinge. Es sind nur noch winzige Ausschnitte, die sie interessieren: Risse im Türrahmen, Ornamente, Verzierungen.

Sie arbeitet, bepflanzt ihren Garten, kümmert sich um den neuen Mann. Als sie ihren ersten Schlaganfall erleidet und sich den Kopf aufschlägt, zieht sie sich am Tisch hoch und läuft auf die Straße, um Hilfe zu holen. Wichtig bleibt auch jetzt, zu funktionieren. „Meine Generation spricht nicht über Gefühle“, sagt sie. Stattdessen läuft sie mit ihrer Kamera durch die Stadt und stellt die Fotos in Foto-Vereinen in Steglitz und in Kreuzberg aus.

Irgendwann beginnt die Demenz ihren Kopf langsamer werden zu lassen, aber Margot lässt sich nichts anmerken. Erst als Heinz stirbt, bricht etwas in ihr. Sie ist jetzt wieder allein, die Krankheit wird schlimmer, bald kann sie die Kamera nicht mehr halten.

Silvester 2016 tanzt sie noch ein letztes Mal mit ihrem Sohn. Sie ist klein geworden und schmal, ihr Haar dünn. Der Sohn wirbelt Margot durch das Zimmer, sie lacht, dann lässt sie sich auf das Sofa fallen. Sie sagt: „Man sollte zwischen dem Tanzen gar nicht aufhören müssen, um etwas zu trinken.“

Paul Hildebrandt

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