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Landleben in der Großstadt.: Berlin ist doch ein Dorf

Büffel weiden, Hähne krähen, Traktoren tuckern: Das ländliche Leben ist ganz nah, sogar mitten in der Metropole. Doch die Bauern haben immer weniger Flächen zu beackern, und manchen Städtern fehlt das Verständnis fürs liebe Vieh. Ein Streifzug.

Tagsüber verkauft sie mitten in Kreuzberg scharfe Sachen. Doch abends, wenn der letzte Kunde ihren „Senfsalon“ verlassen hat, freut sich Merit Schambach auf ihr Dorf. Das liegt nicht irgendwo weit draußen in Brandenburg, sondern in Berlin. Ziemlich in der Mitte zwischen Rathaus Spandau und dem Stößensee an der Heerstraße. Etwa eine halbe Stunde braucht die 42-Jährige nach Tiefwerder. Endspurt auf der Ruhlebener Straße. Jetzt rasch auf den Linksabbieger, weg vom Verkehrsgetöse. Herrliche Ruhe. Es ist Merit Schambachs kleine überschaubare Welt.

Ist es nicht so, dass sich viele Berliner selbst mitten in der Großstadt gerne ihr eigenes Dorf im Kiez basteln – mit Stammcafé und Obstverkäufer um die Ecke? Ganz Berlin ein Dorf? Da ist was dran, auch wenn das einzige echte Dorf „Berlin“ in Schleswig- Holstein liegt. Die Hauptstadt hat aber auch klassische, nahezu erhaltene Dörfer wie Tiefwerder oder Lübars in Reinickendorf. Und es gibt noch elf Dorfkerne – am Stadtrand, aber auch mittendrin, etwa Alt-Marzahn oder Rixdorf in Neukölln. Manche Gehöfte und die original erhaltenen Dorfauen wie in Lübars oder Alt-Marienfelde stehen unter Denkmalschutz, ebenso Feldsteinkirchen und Landvillen.

Merit Schambach biegt nun in Tiefwerder in eine Ahornallee ein, fährt dann auf die Dorfstraße. Am Weg liegen Brückchen, Fischerkaten, Trauerweiden, eine Katze springt über den Asphalt. Man kann hier auf Havel-Altarmen paddeln, über die Tiefwerder Wiesen spazieren und von Stegen aus Asiatische Wasserbüffel beobachten. Die Wiesen sind Berlins „letztes natürliches Überschwemmungs- und Hechtlaichgebiet“, das steht auf einer Tafel. Die weidenden Büffel ersparen teure Mäheinsätze. Würde der Wind nicht das Quietschen der Kräne vom Südhafen herübertragen, man käme sich vor wie im Müritz-Nationalpark in Mecklenburg.

Der alte Dorfkern von Alt-Marienfelde in Berlin, aufgenommen am 6. September 2013. Neben vielen alten Gutshäusern und dem Gutspark gibt es auch noch die alte Dorfkirche.
Der alte Dorfkern von Alt-Marienfelde in Berlin, aufgenommen am 6. September 2013. Neben vielen alten Gutshäusern und dem Gutspark gibt es auch noch die alte Dorfkirche.

© Kitty Kleist-Heinrich

Der letzte Fischer des Dorfes

Die Frau vom Kreuzberger „Senfsalon“ wohnt mit Familie direkt am Altarm. Segelboot „Obelix“ dümpelt neben dem Gewächshaus. Blick auf Auwald, Röhricht, Reiher. „Komisch“, wundert sie sich, „dass so wenige Berliner Tiefwerder kennen, obwohl man es Spandaus Klein-Venedig nennt.“ Vielleicht liegt es daran, dass die Dorfstraße eine Sackgasse ist. Dahinter beginnen die Tiefwerder Wiesen.

Dieter Polzin, 69 Jahre alt, ist seit ein paar Jahren Rentner. Ab und zu aber fährt er noch raus, verkauft dann Aal und Zander in seiner blumengeschmückten Kate. Er ist der letzte Fischer des Dorfes. „Auch der klassische Landwirt wird bei uns rar“, bedauert Berlins Staatssekretärin für Verbraucherschutz, Sabine Toepfer-Kataw (CDU). Obwohl es doch so wichtig sei, „dass gerade Städter Viehzucht und Getreideanbau hautnah erleben“. Aber den Landwirten gehen Weiden und Äcker verloren, Höfe gibt es fast nur noch am Stadtrand. „Glücklich, wer gleich nach der Wende so pfiffig war, Flächen in Brandenburg zu pachten“, sagt Axel Gericke vom Verband für Landwirtschaft Berlin. Heute sei dort alles Pachtland vergeben. Die Bezirke, das Land und die Wasserbetriebe, denen viele Berliner Areale wie die einstigen Rieselfelder gehören, schließen meist nur noch kurzfristige Pachtverträge ab, sagt Gericke. „Die hoffen, den Boden zu versilbern.“

Der Wohnungsbau rückt Stück um Stück vor. Aktuell im Neuköllner Süden auf der Buckower Feldmark, wo Bauer Mette aus Buckow ackert. Auf 9,5 Hektar soll dort ab 2014 eine Siedlung entstehen. Für Werner Mette (46) ist das „ein Schlag ins Herz“. Ihm verbleiben nicht mehr allzu viele sichere Pachtflächen. Andere Höfe stehen offenbar besser da, vor allem, weil sie viel Land im Speckgürtel bearbeiten. In Berlin, bei Alt-Lichterfelde, werden aber zum Beispiel auch Zückerrüben angebaut – und an den Zoo geliefert, als Delikatesse für die Elefanten.

Platz da: Pragmatisch wird der Verkehr im Dorf Alt-Marienfelde geregelt.
Platz da: Pragmatisch wird der Verkehr im Dorf Alt-Marienfelde geregelt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Hundehalter schleudern Knüppel auf Heuwiesen, obwohl diese die Mähmaschinen blockieren

Genervt seien viele Kollegen „von Leuten ohne Verständnis fürs Landleben“, sagt Bauernsprecher Gericke. Hundehalter schleudern Knüppel auf Heuwiesen, obwohl diese die Mähmaschinen blockieren. Und Bauer Erwin Böttcher (76) in Alt-Blankenburg ärgert sich über neu Zugezogene, die sich über krähende Hähne beschweren oder den Lärm, wenn er sonntags mäht. „Ich muss doch das gute Wetter nutzen“, sagt er.

Die Nähe zu den Großstädtern bietet aber auch Vorteile. „Was glauben Sie, warum man so viele junge Frauen in Berlins Dörfern sieht“, heißt es beim Bauernverband. Das hänge mit den Pensionspferden zusammen, die etlichen Höfen das Überleben sichern. „95 Prozent der Kunden sind weiblich.“ Rasch wachsende Geschäftsfelder sind auch der Verkauf eigener Produkte im Hofladen, so im Gut Osdorf, das Fleisch schottischer Hochlandrinder anbietet. Oder der Spaß beim Selbsternten: Zum Beispiel am Gatower Vierfelder-Hof darf jedermann Kartoffeln ausbuddeln. Da Berlins Höfe im Vergleich zu anderen Agrarbetrieben klein sind, bieten sie eine familiäre Welt.

Doch gibt es dieses Gefühl, dazuzugehören, auch noch im dörflichen Berlin? Wer von der lauten Neuköllner Karl-Marx-Straße zum Richardplatz in Rixdorf abbiegt, steht sogleich in einer anderen, kleinen Welt: Dorfschmiede, Feldsteinkirche – Stille. Annette Schmieder erlebt das täglich, seit 2002 wohnt sie hier in einer Gründerzeitvilla. Sie liebt den Mix aus Stadt und Dorf. Ein richtiges Miteinander aber gebe es hier nicht mehr, sagt sie. Anders als in Tiefwerder. „Hier kennt jeder jeden, wir passen aufeinander auf“, sagen viele Anwohner.

Und anderswo? Heiko Salmen, einst Inhaber der Kellerkneipe „Too Dark“ im Kreuzberger Bergmannkiez, ist zurückgekehrt zur Dorfaue nach Alt-Marienfeld. Hier ist er aufgewachsen zwischen Teich und Gutspark. Er betreibt jetzt den Hofladen bei „Bauer Lehmann“. Salmen freut sich auf Weihnachten. „Dann kehren alle Weggezogenen wieder heim ins Dorf. Zur Mitternachtsmesse in unserer Kirche.“

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