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In guten Händen. Heimbewohnerin Rita Seyfi in der Schöneberger Fugger-Klinik.

©  Thilo Rückeis

Künstliche Beatmung: Ein Leben am Schlauch und trotzdem mobil

Nur fünf Pflegeheime in Berlin bieten wie die Fugger-Klinik Heimbeatmung an. Ohne die Luft aus dem Respirator könnte Rita Seyfi nicht atmen.

Wenn Rita Seyfi aus ihrem Leben erzählt, verschluckt sie einzelne Laute, manchmal ganze Worte. Man muss gut hinhören, doch nach einigen Augenblicken haben sich die meisten ihrer Gesprächspartner reingehört und verstehen, was sie sagt. Und wenn nicht: einfach nachfragen. Sie hat kein Problem damit, etwas zu wiederholen.

„Seit drei Jahren habe ich das jetzt“, erzählt sie. Und meint damit den weißen Plastikschlauch, der über eine Trachealkanüle in ihre Luftröhre führt. Ein Tuch verdeckt die Eintrittsstelle. Am anderen Ende ist er an ein relativ kleines Gerät angeschlossen, an einen Respirator, den sie auf einem Rollator mit sich führen kann. Ohne dieses Gerät würde sie keine Luft mehr bekommen. Drei Jahre lebt Rita Seyfi jetzt hier, im Pflegeheim Fugger-Klinik in Schöneberg. Seit sie hier ist, wird sie künstlich beatmet.

Beatmung für jedes Alter

Renate Andro, die betreuende Ärztin der Fugger-Klinik, sitzt neben ihr und erklärt: „Grundsätzlich müssen Patienten immer dann beatmet werden, wenn die Funktion der Lunge stark eingeschränkt ist“. Das kann verschiedene Gründe haben. Der häufigste ist die Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) im fortgeschrittenen Stadium. Von ihr sind sehr viele Raucher betroffen, sie macht die Lunge kraftlos und führt dazu, dass sie sich nicht mehr richtig entfalten kann.

Auch eine genetisch bedingte Muskeldystrophie kann eine künstliche Beatmung notwendig machen, die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), von der auch Menschen jungen oder mittleren Alters betroffen sein können, oder ein Schlaganfall. „Beatmung ist, wie Pflege generell, nicht ausschließlich ein Thema für ältere Menschen“, sagt Renate Andro. In der Fugger-Klinik liegt der Altersdurchschnitt der Bewohner bei 65 Jahren. Die jüngste Bewohnerin ist 21, der älteste 92.

Geraucht hat auch Rita Seyfi. „Viele Jahre“, sagt sie. Die heute 65-Jährige bekam schon früh Probleme mit der Atmung, sie erinnert sich an einen Krankenhausaufenthalt aus dem Jahr 1972. Die gebürtige Weddingerin hat als Reinigungskraft gearbeitet, im Sozialamt geputzt und Hausmeisteraufgaben übernommen, etwa die Schlüssel herausgegeben.

Vom Typ „resolute Berlinerin“

1999 war damit Schluss, sie wurde arbeitslos. Später kam sie das erste Mal in ein Pflegeheim, doch da verschlimmerten sich ihre Atemprobleme. Im Mai 2013 wurde sie als Notfall – Lungenentzündung – ins St. Joseph Krankenhaus Tempelhof verlegt und auf der Intensivstation invasiv beatmet. Aber sie hatte einen starken Lebenswillen. Deshalb entschied die Klinik mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin, eine Tracheotomie und eine Anpassung ans Heimbeatmungsgerät vorzunehmen.

„Ich wachte auf und hatte den Schlauch im Kehlkopf. Davon habe ich gar nichts mitbekommen“, erzählt Seyfi. Sie wirkt immer noch kräftig und kernig. Die Haare hat sie dunkelrot gefärbt, am Rollator einen Teddybären installiert – und eine Hupe. Typ „resolute Berlinerin“, ganz klar. Von dem Eingriff hat sie sich damals gut erholt, aber in ihr altes Pflegeheim konnte sie nicht mehr zurück. Sie brauchte ein Heim mit Spezialpflegebereich für außerklinische Beatmung. So kam sie in die Fugger-Klinik.

Dort, wo die Kanüle, das sogenannte Tracheostoma, in ihren Hals eindringt, sind die Ränder fest vernäht worden. Das Verfahren nennt sich chirurgische Tracheotomie – im Gegensatz zur dilatativen Tracheotomie, bei dem der Chirurg die Ränder nur aufdehnt, aber nicht vernäht. Beide Verfahren haben Vor- und Nachteile. Es kostet weniger Zeit und Material, die Ränder nur aufzudehnen, die Öffnung kann aber im Laufe der Zeit von alleine wieder zuwachsen.

Die chirurgische Tracheotomie ist aufwendiger, dafür ist es danach aber viel einfacher, die Kanülen regelmäßig zu wechseln. Das Pflegepersonal wechselt Seyfis Kanüle alle 14 Tage. Allerdings ist eine chirurgische Tracheotomie auch endgültig. Sollte die Kanüle eines Tages doch wieder entfernt werden, verschließt sich das Loch nicht mehr von allein. Aller Voraussicht nach wird das bei Rita Seyfi jedoch ohnehin nicht eintreten – sie wird auf Dauer mit ihrer Kanüle leben müssen.

Ganz individuelle Geräte

Eigentlich hat sie es ganz schön hier, im ausgebauten Dachgeschoss der Fugger-Klinik, wo sich die Beatmungsplätze befinden. Man blickt über das Zentrum von West-Berlin, hinüber zum KaDeWe, die Gedächtniskirche und der rotierende Stern auf dem Europa-Center ragen in den tiefblauen Himmel. Das Beatmungsgerät steht neben Rita Seyfi. Den lebenswichtigen Sauerstoff zieht der Respirator aus einem Konzentrat. Seyfi kann das Gerät in gewissem Maße steuern, das hat sie in den letzten drei Jahren gelernt. Es reagiert auf sie und merkt, wenn sie mehr Luft braucht. Hat sie gerade etwas anstrengendes gemacht, kann sie das Gerät mit kräftigen Atemzügen dazu bringen, mehr zu spenden. „Triggern“ heißt das. An der Charité wurde das Gerät auf ihre persönlichen Werte eingestellt, die zuvor ein Lungenarzt festgelegt hatte.

Allgemeinmedizinerin Renate Andro ist zur Stelle, wenn Rita Seyfi etwas braucht. Sie arbeitet seit 2002 an der Fugger-Klinik im Rahmen des sogenannten Berliner Projekts, in dem mehrere Träger – zum Beispiel AOK oder IKK – gemeinsam sicherstellen, dass in Pflegeheimen mindestens ein Arzt oder eine Ärztin vor Ort ist. Das fachärztliche Detailwissen zur Beatmung aber besitzt eine Charité-Pneumologin, die einmal im Quartal in die Fugger-Klinik kommt. Dann werden ihr neue Bewohner vorgestellt und sie überprüft, ob die Einstellungen an den Beatmungsgeräten in Ordnung sind. Auch an dem von Rita Seyfi.

Heute bleiben Patienten mobil

Der Begriff Heimbeatmung kann mindestens zwei Bedeutungen besitzen. Manchmal ist die Beatmung in den eigenen vier Wänden gemeint. Manchmal, wie in diesem Fall, die Beatmung im Pflegeheim. In beiden Fällen aber bekommen die Patienten relativ kompakte Respiratoren, die ihnen eine – wenn auch begrenzte – Mobilität ermöglichen.

In medizinhistorischen Museen ist zu besichtigen, was heutigen Patienten erspart bleibt: Eiserne Lungen haben das Leben Tausender gerettet. In diesen monströsen Apparaten waren die Patienten, den Kopf ausgenommen, wie in einem luftdichten Sarg eingeschlossen. Im Prinzip ist eine Eiserne Lunge eine Druckkammer, aus der die Luft in regelmäßigen Abständen abgepumpt wird, um im Inneren einen Unterdruck zu erzeugen. Dadurch, dass der Druck der Umgebung nun höher ist, wird Luft in die Atemwege gepresst.

Manche Menschen lebten Jahrzehnte auf diese Weise, liegend, den Blick zur Decke gerichtet. Den Rekord, der vermutlich für die Ewigkeit bestehen wird, stellte die 2009 verstorbene Amerikanerin Martha Mason auf, die 61 Jahre in der eisernen Lunge verbrachte. Heutige Patienten haben es ungleich besser. Sie können mit ihren Geräten sogar Ausflüge unternehmen.

Nur fünf der 279 Heime für Dauerpflege in Berlin bieten Plätze für beatmungspflichtige Patienten an – neben der Fugger-Klinik das Remeo Center, das Pro Seniore Krankenheim Genthiner Straße, das Zentrum für Beatmung und Intensivpflege im „Storkower Bogen“ und das Vitanas Senioren Centrum Rosengarten. Nicht alle sind wie die Fugger-Klinik auf vollstationäre Pflege ausgerichtet.

Permanent "am Schlauch"

Das Zentrum für Beatmung und Intensivpflege setzt auf ambulante Fachpflege im betreuten Wohnen, es gleicht eher einer WG, in der die Bewohner weiterhin ein selbstständiges Leben führen. Die Fugger-Klinik hat insgesamt 108 Pflegeplätze, acht davon für Beatmungspatienten. Nicht alle Patienten müssen wie Rita Seyfi dauerbeatmet werden. Manche müssen zweimal am Tag für einige Stunden „an den Schlauch“, andere nur nachts. Wie intensiv sie beatmet werden müssen, hängt von der Sauerstoffsättigung im Blut ab und davon, wie erschöpft die Atemmuskulatur ist.

Fällt der Schlauch auch mal raus beim Schlafen? „Klar tut er das“, sagt Rita Seyfi. Dann ertönt ein Alarm und sie steckt ihn wieder rein. Das kann sie ganz alleine.

Bei vielen Beatmungspatienten ist sogar erwünscht, dass sie alleine atmen und vom Beatmungsgerät getrennt werden. Weaning (engl. für Entwöhnung) nennt sich dieser Prozess und wird immer in einem speziellen Zentrum, etwa an der Charité, durchgeführt. Die Patienten sollen nach und nach dazu gebracht werden, wieder selbstständig zu atmen. Das kann Wochen dauern oder – wie bei Rita Seyfi – nie so weit sein. „Wenn die Kanüle gewechselt wird, kann ich ein paar Augenblicke ohne Beatmung auskommen. Das ist gar kein Problem“, erzählt sie. Aber sobald diese Augenblicke länger andauern, packt sie schlagartig die Angst.

Ihren Alltag kann sie auch so genießen. An Beschäftigung mangelt es nicht. Regelmäßig bekommt sie Besuch von ihrer Tochter, falls diese nicht, wie Rita Seyfi nicht ohne einen Anflug von Stolz erzählt, „in der Welt unterwegs ist. Gerade erforscht sie Störche in der ägyptischen Wüste“. Seyfi macht viermal in der Woche Gymnastik, besucht Filmvorführungen oder Konzerte, die regelmäßig unten im Foyer angeboten werden. Auch Ausflüge mit den anderen Patienten und den Pflegekräften sind drin, auf Weihnachtsmärkte oder, wie vor Kurzem, auf den Wannsee: ein Bootsausflug mit der MS Moby Dick nach Tegel.

Und was wird sie heute noch machen? „Mal gucken, vielleicht mit dem Computer spielen“, sagt sie lächelnd. Und holt tief Luft dafür.

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