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Putzmunter & zerbrechlich. Ein Yorkshire-Kanarienhahn in Cevat Kandemirs Hand.

© kai-Uwe Heinrich

Kanarienvogelzucht in Berlin: Gesangsunterricht für die quietschgelben Vogelstars

Am Bosporus werden Kanarienvögel vergöttert. Deshalb gibt es auch in Berlin einen Fanclub. Cevat Candemir ist Chef des Vereins „Türkische Kanarienliebhaber e.V.“

Nummer 119 ist schon wieder in Liebeslaune. Obwohl ihre Jungen gerade erst geschlüpft sind. Nummer 119 ist eine quietschgelbe Kanarienhenne in einem Vogelbauer im sechsten Stock eines Hauses an der Grammestraße in Siemensstadt. Jetzt macht sie gerade mal ein Päuschen vom Füttern, hopst putzmunter hin und her, dann peilt sie das Männchen an. Trillern, Flügelschlagen. „Klarer Fall“, sagt Cevat Candemir, „die bringt ihren Kerl in Stimmung“. Candemir ist ein kräftiger Mann mit Stoppelbart, Jogginghose und bunt kariertem Hemd. Er ist 62 Jahre alt, in der Osttürkei aufgewachsen, lebt seit 40 Jahren in Berlin und züchtet fast ebenso lange Kanarienvögel. Seine Leidenschaft hat er in der Berliner Migrantenszene fest verankert: Seit 1999 ist er Gründer und Chef des Vereins „Türkische Kanarienliebhaber“.

Vierzehn Tage saß die Henne auf den Eiern

Wer offiziell züchtet, hat nicht nur ein paar Vögel, sondern ein ganzes Völkchen. Candemir hält zur Zeit rund 20 Kanarien in seiner Wohnung und 30 in Volièren seines Schrebergartens. Allen Namen zu geben und sich diese zu merken, das würde ihn überfordern. Außerdem wäre es fachlich daneben. Seine Kanarien haben Nummern, und die sind eingeprägt in ihren Fußring, ergänzt durch Verbands-, Vereins- und Züchterziffern.

Bei Nummer 119 ist es ein weinroter Plastikring. Candemir greift in den Käfig und hält die Henne nun in der Hand. Behutsam wie eine Porzellanfigur. Nur der kugelrunde, gefiederte Kopf mit den schwarzen, lebhaften Perlaugen guckt zwischen Daumen und Zeigefinger heraus. Knapp 14 Tage saß das Weibchen in einem kreisrunden, mit Watte ausgestopften Drahtnest auf den Eiern. Nun versorgt sie ihren Nachwuchs im Team mit dem Hahn – und macht ihn an. Kanarienvögel haben es mit der Fortpflanzung eilig.

Gut zu tun. Der 62-Jährige Cevat Candemir hält rund 50 Kanarienvögel zweier Rassen in seiner Wohnung (Foto) und im Garten.
Gut zu tun. Der 62-Jährige Cevat Candemir hält rund 50 Kanarienvögel zweier Rassen in seiner Wohnung (Foto) und im Garten.

© Kai-Uwe Heinrich

Es gibt in Berlin eine ganze Reihe traditionsreicher Vogelzucht- und Kanarienvereine. Wieso machen die Türken also ornithologisch ihr eigenes Ding? Zumal neben den Kanarienliebhabern noch ein zweiter Verein fest in türkischer Hand ist: Der „Internationale Kanarien Club“ in Neukölln.

Die Kanarien vom Bosporus sind ja eigentlich Fußballer

Wenn von „Kanarienvögeln am Bosporus“ die Rede ist, denken Fußballfans eigentlich eher an die Kicker des Istanbuler Vereins „Fenerbahce“ in ihren gelben Trikos als an die kleinen quirligen Sänger. Candemir schmunzelt. „In der Türkei sind die Kanarien an sich extrem beliebt. Die werden vergöttert. Ganz im Gegensatz zu Deutschland.“ Wenn ein Zuchtverein in Istanbul ausstelle, habe er jede Menge Publikum. „In Berlin kommen immer weniger Interessenten.“ Das war mal anders. In den frühen Jahrzehnten der Bundesrepublik erfreute „Hansi“, der Kanarienvogel, noch viele Familien mit seinen Arien am Küchenfenster. Aber „Serinus canaria forma domestica“, wie die gezähmte Girlitz-Art von den Kanarischen Inseln heißt, ist aus der Mode gekommen.

"Ru, ru, ru - ro, ro, ro" - das ist die Hohlrolle

Nun sind die rund 30 türkischen Kanarienliebhaber aber keineswegs ganz unter sich. Es sind auch einige Deutsche und Vogelfreunde anderer Nationen mit dabei. Anfangs trafen sie sich in Cevat Candemirs Laden für Vogelzüchter an der Kienitzer Straße in Neukölln. Aber das Geschäft warf zu wenig Geld für eine fünfköpfige Familie ab, der Mechaniker arbeitet jetzt wieder im alten Job. Wie er auf die Kanarienvögel kam? „Es war ein Geschenk, ein Pärchen, die bekamen fünf Junge ...“ Zu Hause hält er seine Vögel in einem kleinen Raum. Regale bis unter die Decke. Darin zwölf Käfige, jeder einen halben Meter breit, meist mit Pärchen besetzt. Morgens rückt Candemir mit Körnerfutter an, zum Beispiel „Negersaat“, ein Name, der noch bei allen antirassistischen Kampagnen durchrutschte. Es ist der protein- und fetthaltige Samen des asiatischen Ramtillkrautes. Dann füllt er Wasser nach. Kanarien trinken viel, täglich bis zu 20 Prozent ihres Körpergewichtes. Ein bisschen Obst und Löwenzahn dazu – und „Magengrit“. Das sind winzige Steinchen zum Zerkleinern der Körner.

Kanarien-Tenöre sind eher schüchterne Typen

Es zwitschert und piepst jetzt um ihn herum so aufgeregt, als wäre ein ganzer Schwarm Sperlinge eingefallen. Die wahren Sänger legen aber erst richtig los, wenn er wieder draußen ist. „Sind keine Rampensäue, eher schüchterne Stars“, murmelt Candemir. Jetzt lässt er aber leise die Tür einen Spalt breit offen: „Ru, ru, ru, ro ro ro“, dazu sagen die Fachleute „Hohlrolle“. Dü, dü, dü – du du du“, das ist die „Pfeife“. Erst abends säubert Candemir die Käfige, täglich eine Stunde lang.

Wesen vom anderen Stern. Derzeit gibt es viel Nachwuchs. Hier ein vor kurzem geschlüpftes Küken.
Wesen vom anderen Stern. Derzeit gibt es viel Nachwuchs. Hier ein vor kurzem geschlüpftes Küken.

© Kai-Uwe Heinrich

Die Karriere als Kanarienzüchter beginnt mit der Qual der Wahl. Wer aktiv einsteigt, entscheidet sich in der Regel, ob er lieber die verschiedenen Farbschläge zwischen grün- grau, gelb und rot, die körperliche Größe und Gestalt – die sogenannte „Positur“ – oder den Gesang durch Kreuzungen verfeinern und variieren will. Cevat Candemir hat sich in erster Linie für die Positur entschieden. Und hier für eine renommierte Zucht von den britischen Inseln: die Yorkshire-Rasse. Man nennt sie auch die Aristokraten unter den Kanarien wegen ihrer Stattlichkeit und Größe von mehr als 17 Zentimetern. Der gelbe Hahn, auf den er jetzt deutet, hat im Januar 2015 als Model eine Goldmedaille bei der Deutschen Meisterschaft geholt. „Lange Beine, wohlgerundeter Kopf, aufrechte, stolze Haltung, glattes Gefieder“, schwärmt sein Besitzer. „Und die Körperform bis zur Schwanzspitze – wie eine Karotte.“

Man fühlt das Herz der Küken pulsieren

Und dann zeigt Candemir seine Nachwuchs-Stars. Er holt sie im Nest aus einem der Käfige. Winzige Wesen mit viel zu großem Schnabel und zartem Flaum. Man fühlt ihr Herz unter der fast nackten Haut pulsieren. Mehr als zwanzig gerade geschlüpfte Küken hat er zur Zeit, die ihn gut beschäftigen. Er kocht für sie Eier hart und gibt das Eiweiß in Näpfe. Dort picken es die Eltern auf und bugsieren die Stückchen ihren Jungen in den Schnabel.

Zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch breitet Candemir so viele Urkunden und Medaillen aus, dass man die Platte kaum mehr sieht. Meist für seine Yorkshire-Zuchten verliehen. Aber es sind auch Preise für die sogenannten „Wasserschläger“ dabei. Das sind Gesangsmeister, denen er Koloraturen anzüchtet und lehrt, die an Geräusche des Wassers erinnern. Sie glucksen und blubbern, lassen die Töne tropfen und plätschern, mal geschlagen, gerollt, gepfiffen, geklingelt oder gehaucht in gut zwölf unterschiedlichen Strophen.

Erst hört der junge Vogel dem Vater zu, dann seinem Vorsänger

Candemirs bester „Wasserschläger“ ist weiß-grau gefiedert und hat Gesangsunterricht bekommen. „Kein Spaß, Kanarien haben ein hervorragendes Gehör“, sagt er. „Die können neben ihrem angeborenen musikalischen Talent noch viele Tonfolgen dazulernen.“ Das hat er pfiffig organisiert: Erst hörte der junge Vogel seinem Vater und Großvater ausgiebig zu, dann bekam er zur weiteren Ausbildung „Wasserroller“-Kassetten vorgespielt. Und schließlich brachte ihn sein Besitzer in einem stillen Raum mit einem älteren, erfahrenen Sänger zusammen. Das war der Vorsänger. Tagelang standen nun beide Käfige eng beieinander.

Doch wie bringt man einen solchen Tenor dazu, vor Schiedsrichtern zu singen? Dazu gibt es den Trick mit der Decke. Denn Kanarien lieben Licht. Wird es in der Frühe hell, fangen sie an zu jubilieren. Also hüllt man sie vor dem Auftritt in Dunkelheit. „Decke weg, los geht’s.“

Und hier noch ein historischer Rückblick zur Kanarienzucht:

Exportschlager auf Papagenos Rücken

Zu Beginn des 14. Jahrhunderts wurden die Kanarien-Girlitze von den Kanarischen Inseln und Azoren nach Spanien gebracht und dort domestiziert. Etwa 100 Jahre lang hatten vor allem spanische Mönche ein Monopol beim schwungvollen Handel mit den singenden „Zuckervögelchen“, weil sie niemals die Weibchen hergaben. Erst im 15. Jahrhundert gelangten geschmuggelte Hennen nach Italien – und bald wurde von England bis zur Türkei überall gezüchtet. In den Bergbauregionen Tirols entwickelte sich ein regelrechtes Zucht- und Handelzentrum. Die Bergleute nutzten die Vögel als „Warner“ unter Tage – bei zu viel Kohlenmonoxid fielen sie von der Stange – aber vor allem waren die Kanarien ein zusätzlicher Broterwerb.

Tiroler Vogelhändler
Tiroler Vogelhändler

© IMAGO

Vogelhändler mit Kiepen voller Käfige zogen von Tirol aus in alle Länder, waren das Vorbild für Mozarts Papageno in der Zauberflöte. Ende des 18. Jahrhunderts wanderten viele Tiroler in den Harz aus, wo sie im Bergbau mehr verdienten. Ihre Vögel nahmen sie mit und legten nun bei der Zucht besonders viel Wert auf Gesangsqualitäten. Sogar Nachtigallen wurden als Vorsänger eingesetzt. Schließlich entwickelte man einen echten ornithologisch-musikalischen Exportschlager: den

„Harzer Roller“.

Und noch ein paar Kanarieninfos:

Egal, welche Rasse man erwirbt – Sänger sind sie alle. Die Hähne aber mehr als die Hennen. Und die auf Gesang statt auf Farbe und Gestalt gezüchteten Rassen jubilieren besonders melodisch. Die einen „rollend“, die anderen „schlagend“. Der Gesang kann aber auch an den Nerven zerren. „Mein Vogel singt stundenlang, ich dreh durch“, heißt es in Internetforen. Man sollte also Kanarien überlegt anschaffen, zumal sie zehn bis 15 Jahre alt werden.

Infos: www. tuerkische-kanarienliebhaber.de / www.kanarien-club-berlin.de.

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