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In der JVA Tegel laufen Ermittlungen.

© dpa

JVA Tegel in Berlin: Häftlinge prügeln sich, weil Wärter fehlen

Mehr als 800 Männer sitzen in der JVA Tegel ein. Oft müssen sie fast den ganzen Tag in der Zelle bleiben - und werden deshalb immer aggressiver.

„Surfin“ steht auf seinem T-Shirt, „Bitburger“ auf der abgewetzten Baseballkappe. Vor ihm rauscht der Verkehr der Holzhauser Straße, und Karsten Wieland beobachtet die Autos. Er sitzt in einem Straßencafé vor einem Mineralwasser, der Verkehr hat ihn noch nie gestört. Mit einem Zeigefinger deutet er über seine Schulter. „Ich bin oft hier“, sagt er, „ich wohne gleich um die Ecke.“

Er hatte auch mal eine andere Adresse in der Nähe, Seidelstraße 39, die Justizvollzugsanstalt Tegel, Deutschlands ältestes und größtes geschlossenes Gefängnis. Wieland saß dort acht Monate, 2011 war das, Details seiner Taten nennt er nicht. Er nennt auch seinen Namen nicht, Karsten Wieland ist ein Pseudonym.

Er ist 37, sein Gesicht hat trotz Dreitagebart und der eckigen Brille eher weiche Züge, und irgendwann sagt er: „Wenn du 23 Stunden eingeschlossen bist und in der Zelle kein Radio und keinen Fernseher hast, drehst du durch. Dann züchtet man dort regelrecht Bomben.“

21 Stellen nicht besetzt

In Tegel sind die Gefangenen immer wieder 23 Stunden eingeschlossen, vor allem öfter als geplant, das ist das Problem. Genau gesagt: ein selbst verschuldetes Sicherheitsrisiko. Aber es geht nicht anders. Wärter fehlen. Wärter, die Freistunden beaufsichtigen, Wärter, die in den Betrieben aufpassen, Wärter, die bei den Sportstunden kontrollieren. Und wenn Wärter fehlen, müssen die Gefangenen notfalls in ihren Zellen bleiben, 23 Stunden lang. Aus Sicherheitsgründen.

Auskunft der Justizpressestelle: „21 Stellen sind in Tegel aufgrund fehlender Nachwuchskräfte im allgemeinen Vollzugsdienst nicht besetzt. 19 Stellen sind (...) zum Wegfall vorgesehen.“ Sie werden ab 2106 nicht mehr besetzt. Mitte August waren 812 Gefangene in Tegel. 449 Personen arbeiten im allgemeinen Vollzugsdienst. Das ist die offizielle Zahl. Die Kranken, Urlauber und die Leute, die auf Fortbildung sind, muss man abziehen. An einem Tag im August betrug der Krankenstand 17,7 Prozent. In anderen Haftanstalten in Berlin ist es nicht anders.

Im August gab es in Tegel in der Nähe der Essensausgabe eine Massenschlägerei. „Diese Prügelei wundert mich nicht, das ist die Folge des Personalmangels.“ Der Satz kommt fast lakonisch. Er kommt von einem groß gewachsenen Mann mit schütterem Haar, der auch in einem Café sitzt, auch in der Nähe der JVA Tegel. Der Mann arbeitet dort seit vielen Jahren. „Die Aggressionen bei den Inhaftierten steigen dadurch gewaltig“, sagt er.

Noch ein Vorfall im August: In der JVA Plötzensee griff in der Freistunde ein Gefangener eine Wärterin mit einem Besteckmesser an. Andere Gefangene überwältigten ihn und führten ihn in eine gesicherte Zelle. Gefangene, nicht Wärter. Die standen nicht zur Verfügung.

Keine Arbeit, kein Geld, kein Kaffee, keine Zigaretten - dafür Aggression

Es gibt Teilanstalten in Tegel, die zeitweise nur mit der Hälfte des geplanten Personals arbeiten. Und wenn für einen der 14 Betriebe in dem wuchtigen Bau genügend Aufsichtspersonal fehlt, wird der Betrieb an diesem Tag geschlossen. Die Gefangenen müssendann in ihren Zellen bleiben. Im ersten Halbjahr 2015 gab es in Tegel an 37 Tagen Betriebsschließungen.

37 Impulse, die eine gefährliche Spirale in Gang bringen können. Wer nicht arbeitet, verdient kein Geld, wer kein Geld verdient, kann sich weniger Kaffee und Zigaretten kaufen, eine wichtige Währung im Gefängnis. Dann kann man auch weniger tauschen. 23 Stunden in der Zelle kommen noch dazu.

Kein Kaffee? Keine Zigaretten? Für einen Gefängnispsychologen, der große Anstalten kennt, ist das eine Horrorvorstellung: „Für viele sind Kaffee und Zigaretten ein Ventil. Die dienen auch zum Spannungsabbau. Wenn sie es nicht haben, setzt sie das noch mehr unter Spannung.“ 23 Stunden in der Zelle erhöhen den Druck. „Leute, die in Haft sitzen, haben generell eine mangelnde Frustrationstoleranz. Wenn so jemand zusätzlich unter Stress gesetzt wird, wird er aggressiv.“

Karsten Wieland kennt die Folgen dieser Aggression, er hat sie erlebt in Tegel. „Da wird dann ein Schwächerer erpresst. Der hört: Wenn du mir beim nächsten Einkauf keinen Kaffee mitbringst, erlebt du dein blaues Wunder.“ Er selber arbeitete in der Gärtnerei, er hatte Glück, er musste nie zwangsweise in der Zelle bleiben. „Bei der Arbeit bist du abgelenkt“, sagt er. „Da kannst du deine Aggressionen in dein Werkstück leiten. Aber wenn ich nicht arbeite, lenke ich meine Aggressionen in das nächste Werkstück, das mir entgegenkommt.“ Eines aus Fleisch und Blut. Dann müssten Wärter einschreiten. Aber diese fehlen oft. „Es entsteht ein Machtvakuum“, sagt der Psychologe. „Kriminelle Hierarchien verfestigen sich, Gewalttäter verprügeln Sexualstraftäter, und keiner verhindert es.“

Bei 40 Grad 23 pro Tag Stunden eingesperrt

Eine gefährliche Kombination in diesem heißen Sommer lautete: geschlossener Betrieb und 40 Grad in der Sonne. Für Gefangene bedeutet das: Sie werden in den Zellen eingeschlossen und müssen in ihren „Schatullen“ (so der JVA-Bedienstete) schmoren. Die Zelle heizt sich auf, die Luft steht, die Hitze ist unerträglich. Es gab Tage in diesem Sommer, an denen Gefangene in ihren Zellen quasi schmorten. „Wenn man bei Menschen, die so eingeschlossen sind, die Türen wieder öffnet“, sagt der Psychologe, und er meint das grundsätzlich , „ist das, als ob man einen Tiger aus dem Käfig lässt.“

Natürlich kennt die Leitung der JVA Tegel das Problem. „Die Anstalten bemühen sich, bei großer Hitze die Beeinträchtigungen für die Gefangenen zu mildern“, sagt Christina Rasche, stellvertretende Sprecherin der Senatsverwaltung für Justiz. „Zum Beispiel durch zusätzliche Getränke, Lüftungsmöglichkeiten der Hafträume, Aufenthalt außerhalb des Haftraumes.“ Wenn dieser Aufenthalt außerhalb des Haftraums möglich ist. „Aber wenn ein Diensthabender sagt, er habe Angst, dass etwas passieren könnte, und er habe für diesen Fall zu wenig Personal, dann bleiben die Gefangenen halt in der Zelle, Punkt“, sagt der Bedienstete.

Gefangene greifen ein, wenn Wärter fehlen

Ende 2017 sollen 151 neue Mitarbeiter kommen. So viele werden laut Rasche derzeit ausgebildet und nach Ende der Ausbildung „gerecht auf alle Berliner Anstalten auf die freien Stellen verteilt. Gut, in Tegel würden Stellen gestrichen, Folge von „Organisations- und Strukturänderungen“, aber in anderen Vollzugsanstalten werde es „einen fachlich begründeten Stellenaufwachs“ geben. Und die Betriebe in Tegel würden mitunter ja auch geschlossen, um dort „Kontrollen ohne zeitlichen Druck und mit der nötigen Intensität durchführen zu können“.

Der JVA-Bedienstete im Café muss lächeln. Er kennt auch andere Begründungen. „Wenn mal wieder Sport im Freien nicht stattfinden darf, heißt es manchmal, es liege an den Ozonwerten. Aber wir alle vermuten, dass mal wieder zu wenig Personal vorhanden ist.“ Und wenn Wärter fehlen, müssen andere ihre Aufgabe übernehmen. Gefangene müssen dann eingreifen wie letztens in Plötzensee? Karsten Wieland zuckt nur die Schultern: „Ich habe selber erlebt, dass Gefangene einen Streit geschlichtet haben, weil kein Schließer auf Station war.“

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