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Cafés wie das St. Oberholz in Mitte sind einer der Treffpunkte vieler junger Europäer.

© picture alliance / dpa

Junge Europäer in Berlin: Die große Freiheit

Europas Jugend zieht es in die deutsche Hauptstadt. Hier kann sie so sein, wie sie möchte. Das bedeutet viel – gerade nach einem Jahr wie 2016.

Akkusativ oder Dativ? Frida Ekelund überlegt. Vor ihr liegt ein orangenfarbenes Kärtchen, auf das mit schwarzem Filzstift das Wort "stehen" geschrieben ist. Er steht dich gut? Ekelund schüttelt den Kopf. Schließlich schreibt sie in ihr Arbeitsheft den Satz: "Dieser Rock steht dir gut."

Die junge Dänin mit den hellbraunen, kinnlangen Haaren sitzt kurz vor Weihnachten in einem Raum der "Deutschule" in Neukölln. Um sie herum junge Menschen aus allen Teilen der Erde. An der pink gestrichenen Wand hängen bunte Zettel, auf denen das Wort "wohnen" konjugiert ist. Der Lärm von der Karl-Marx-Straße dringt nur schwach durch die geschlossenen Fenster.

Ekelund ist hier, um anzukommen in Berlin. Sie will Deutsch lernen, um bleiben zu können, hier studieren zu können, irgendwann vielleicht. An Berlin hat sie die große Freiheit gereizt. Keine Grenze hat sie aufgehalten, kein Visum war nötig für sie, um herzukommen. Und so ist Ekelund eine von Tausenden jungen Europäern, die jedes Jahr nach Berlin ziehen.

Berlin wirkt für viele junge Europäer anziehend

Berlin ist für sie ein Sehnsuchtsort. Nicht nur, aber auch wegen des "starken europäischen Vibes", wie Ekelund es nennt. Hier zeigt sich Europa von seiner besten Seite. Hier zeigen sich die Werte, die Europa ausmachen und die doch bedroht sind. Denn 2016 war für Europa ein schlechtes Jahr: Brexit, Rechtsruck, Anschläge. Wer sich in Berlin mit jungen Europäern unterhält, in Sprachschulen, Start-ups und Universitäten, erfährt, was das Projekt Europa in der heutigen Zeit für sie bedeutet – und was Berlin damit zu tun hat.

Die Dänin Frieda Ekelund reizte die Freiheit in Berlin - also zog sie einfach um.
Die Dänin Frieda Ekelund reizte die Freiheit in Berlin - also zog sie einfach um.

© Tsp

Ekelund sitzt in der Pause im Café ihrer Sprachschule. Auch hier sind die Wände bunt, in der Ecke steht ein Tannenbaum. Die 21-Jährige erzählt, wie sie vor zwei Jahren zum ersten Mal nach Berlin gekommen ist. Da habe sie eine Freundin besucht und war beeindruckt von deren Freundeskreis. "Ganz unterschiedliche Leute aus verschiedenen Nationen, Altersklassen und Berufen kamen da zusammen. Ein Chemiker, eine Modedesignerin, ein Filmemacher..." Aus Dänemark kannte sie so etwas nicht. Im nächsten Jahr kam sie wieder zu Besuch, staunte über die Ästhetik der Berliner Architektur, die ihr ein bisschen „nostalgisch“ und sehr geschichtsträchtig vorkam. Für Ekelund fiel in diesem Sommer der Entschluss, nach Berlin zu ziehen. Im Oktober dieses Jahres kam sie hier an, ohne Job, dafür aber mit erspartem Geld und einem Platz in einer WG in Prenzlauer Berg, den sie kurz zuvor ergattert hatte. Es ist ein Gedanke, den viele haben: erst mal herkommen, der Rest wird sich schon ergeben.

In ihrer Heimat Rumänien sah Konya keine Zukunft

So unbeschwert lief für Timea Konya der Umzug nach Berlin nicht ab. Die 25-jährige Rumänin arbeitet als Designerin in einem Berliner Hardware-Start-up. Im obersten Stock eines alten Industriegebäudes in Wedding hat das Unternehmen sein Büro. Hier hängen große Lampen von der Decke, es gibt eine Tischtennisplatte, Sitzsäcke und eine große Gemeinschaftsküche. "Ich habe so viel Glück, dass ich hier gelandet bin", sagt sie. Konya wächst in einer kleinen Stadt in Rumänien nahe der Grenze zu Ungarn auf, später studiert sie an einer Kunsthochschule. Doch danach gibt es für die junge Frau nur einen Job in einer Druckerei. 280 Euro bekommt sie hier im Monat – zu wenig, um davon zu leben. Die Kollegen sind bitter und engstirnig, lernen kann Konya hier von niemandem. 2014 beschließt Konya, das Land zu verlassen. Sie beginnt Logos zu gestalten, um ein Portfolio zusammenzubekommen. "Ich wollte da weg – dafür hätte ich alles getan."

Timea Konya sah in ihrer rumänischen Heimat für sich keine Perspektive.
Timea Konya sah in ihrer rumänischen Heimat für sich keine Perspektive.

© privat

Sie bewirbt sich in Österreich und Deutschland, fast 200 Bewerbungen schreibt sie, für Praktika und Jobs als Grafikdesignerin. Doch wenn überhaupt Antworten kommen, sind es nur Absagen. Nach einem halben Jahr meldet sich endlich ein Berliner Start-up-Unternehmen, Konya hat über Skype ein Bewerbungsgespräch mit einem polnischen Designer, der dort arbeitet. Es geht um ein Praktikum. "Ich brauchte so dringend jemanden, der an mich glaubt", sagt Konya heute. Wenig später bekommt sie tatsächlich eine E-Mail. "We would like to have you on board", steht darin, das weiß sie noch. Wir hätten sie gern dabei. Konya bricht in Tränen aus. Es ist der glücklichste Tag ihres Lebens. Zwei Wochen später sitzt sie mit nur einem Rucksack und einem Koffer im Flugzeug nach Berlin. Sie hat nicht vor, zurückzukommen.

Doch nicht alle, die nach Berlin kommen, schließen so mit ihrem Heimatland ab. Maciej Peplinski etwa pendelt heute zwischen Deutschland und Polen. Der junge Mann aus Posen hat sein Masterstudium in Berlin gemacht, promoviert jetzt in Filmwissenschaft an der Universität in Krakau, wohnt und arbeitet aber in Berlin. Halbzeit in einem Übersetzungsbüro, um die Promotion zu finanzieren. Er nennt sich halb im Scherz einen "ewigen Praktikanten". In seiner Freizeit ist er häufig in einer Berliner Institution mit dem selbstironischen Namen "Der Club der polnischen Versager" zu finden. Viele Polen haben hier ein Zuhause gefunden.

In Berlin ist man frei, alles ist hier möglich

Was hat Peplinski nach Berlin getrieben? Er empfängt in seiner kleinen Einzimmerwohnung in Kreuzberg. Hochbett, senfgelbe Retro-Couch, E-Gitarre an der Wand. Der 28-Jährige trägt eine grün-blaue Strickjacke, einen Schnauzbart und die dunkelblonden Haare modisch kurz geschnitten. "Mit 18 habe ich einen Sprachkurs in Berlin gemacht, das war so etwas wie eine erste Erasmus-Erfahrung", erzählt er in fehlerfreiem Deutsch. Menschen aus allen möglichen Ländern, gemeinsame Erlebnisse. Die Kulturszene fasziniert Peplinski. In einem kleinen Art-House- Kino in Kreuzberg sieht er einen Film des US-Regisseurs David Lynch. "Das war eine sehr prägende Erfahrung." Auch er genießt das Gefühl von Freiheit, allein in einer großen Stadt, alles ist hier möglich. Unbedingt, das weiß er nach dem Sprachkurs, will er einmal hier leben.

In den Sprachschulen merken sie immer genau, welche jungen Europäer gerade in Berlin angekommen sind. Denn mit dem Deutschlernen beginnt für viele der Aufenthalt hier, wenn sie vorhaben zu bleiben. Dann wollen sie sich von den Touristen abheben. Vor vier Jahren, erzählt einer der Sprachlehrer in der Schule von Frida Ekelund, seien vor allem Spanier hergezogen. Vor drei Jahren seien es dann Italiener gewesen. Engländer und Osteuropäer, vor allem Polen, gebe es immer viele.

Die Statistiken zeigen es noch genauer: Insgesamt lebten Ende Juni 2016 mehr als 250 000 EU-Bürger in Berlin, davon rund 56 000 Polen, 27 000 Italiener, 26 000 Bulgaren, 18 000 Rumänen, 14 000 Spanier und 13 000 Griechen. Die größte Gruppe ist jeweils – genauer ist die Statistik leider nicht – zwischen 15 und 45 Jahren alt.

Junge Neuankömmlinge schlagen sich oft erst einmal mit Gelegenheitsjobs durch. Babysitten oder Kellnern. "Bis nachmittags im Sprachkurs und dann abends ins Restaurant arbeiten. So sieht dann für viele junge Europäer der Alltag aus", erzählt eine andere Lehrerin.

Der Pole Maciej Peplinski machte seinen Master in Berlin.
Der Pole Maciej Peplinski machte seinen Master in Berlin.

© Tsp

Im Kurs von Frida Ekelund sind sie mittlerweile bei einer Übung zum Imperativ angekommen. Mit unterschiedlichen Farben schreibt die Lehrerin an die Tafel, um klar zu machen, wie das mit den Wortstämmen funktioniert. "Du hilf-st" - daraus wird "Hilf!". Ekelund hat es schon nach wenigen Beispielen kapiert. "Das ist ja einfach", sagt sie.

Das Deutschlernen fällt ihr nicht schwer – vieles ist ähnlich zu ihrer Muttersprache Dänisch. Dennoch weiß sie nicht, ob sie ihr Ziel erreichen wird und im nächsten Sommer ein Studium in Berlin beginnen kann. Für Kultur- oder Politikwissenschaft will sie sich einschreiben. Auch Architektur könnte sie sich vorstellen. Doch für ein Studium braucht man ein hohes Sprachniveau, und die Kosten für den Kurs zehren Ekelunds Ersparnisse auf. Einen Job hat sie immer noch nicht.

Trotzdem würde sie aus Berlin jetzt nicht wegwollen. Dass sie hier leben kann, weiß die 21-Jährige zu schätzen. "Das ist schon ein Privileg. Andere Leute von außerhalb der EU haben es viel schwerer, sich in Berlin niederzulassen." Ihr kommt die Stadt vor wie ein Schmelztiegel. "Dass hier so viele europäische Kulturen zusammenkommen, kreiert eine ganz besondere Atmosphäre", sagt sie. Die Vielfalt Europas zeigt sich innerhalb der Grenzen dieser Stadt, das ist ebenfalls ein Wert an sich.

Auch der Pole Peplinski sieht das so. In dem Übersetzungsbüro, in dem er sein Geld verdient, arbeiten junge Menschen aus neun verschiedenen Ländern. "Und wenn wir mittags essen gehen, finden wir immer einen Imbiss aus dem Heimatland von einem von uns." Die Bezüge der Kulturen seien einfach zu erreichen. "Es gibt Raum für jedermanns Identität", sagt er.

Für Timea Konya ist es vor allem die Toleranz, die für sie den Reiz der Stadt ausmacht. In ihrer Heimat Rumänien wurde die junge Frau für ihr Aussehen oft ausgegrenzt. Sie trägt meist Schwarz, gern auch Band-T-Shirts, hat ein Nasenpiercing, schwarze Haare und dunkle Augenbrauen. Dafür kamen auf der Straße oft Sprüche, erzählt sie. "Die Leute haben mich gefragt, ob ich Satanistin bin, vor mir ausgespuckt. Auch geschlagen wurde ich manchmal." Selbst die Lehrerin in der Schule hätte ihren Eltern gesagt, dass sie eigenartig sei. "Hier in Berlin kann man sein, was und wer man will. Und wenn man es versaut, fängt man am nächsten Tag wieder von vorne an."

Peplinski schätzt außerdem das politische Bewusstsein, die politische Kultur in Berlin, die ausgeprägter sei als in seiner Heimat. "Die Stücke an der Volksbühne etwa sind oft politisch, während in Polen viele kulturelle Institutionen halb staatlich sind und sich das nicht erlauben können", erklärt er. Auch er selbst engagiert sich mittlerweile – in einer jungen, linken Partei aus Polen, die hier einen Kreisverband hat. „Razem“ heißt sie, sie sieht sich in einer Reihe mit der spanischen Podemos-Partei. Es ist eine junge linke Bewegung in Europa, zu deren Teil Peplinski hier in Berlin geworden ist – auch eine Antwort auf den aufkeimenden Rechtspopulismus.

Die jungen Europäer nehmen den Rechtsruck in Europa als eine Bedrohung wahr. "Der aufkeimende Populismus bedroht die ganze Idee der Europäischen Union", sagt Ekelund. Peplinski macht die Entwicklung in seiner Heimat Sorgen - etwa der Versuch, ein Abtreibungsverbot durchzusetzen, das erst nach massiven Protesten vom Parlament abgelehnt wurde. Auch die andauernde Debatte um krisengeschüttelte Euro-Länder wie Griechenland findet Peplinski problematisch. Er ist ein nachdenklicher Mensch, will sich nicht zu plakativen Aussagen hinreißen lassen. Trotzdem dann der Versuch einer Erklärung: "Es gibt das idealistische Konzept von Europa – Freiheit, Partnerschaft, Austausch. Aber wenn es um Geld geht, dann setzt der Pragmatismus ein."

Der Rechtsruck in Europa macht ihnen Sorgen

Timea Konya hat durch viele Freunde in Großbritannien den Brexit ganz nah erlebt. "Die waren so sauer, so verzweifelt und enttäuscht. Es ist einfach nicht fair, dass es vor allem die Älteren waren, die über die Zukunft der Jungen abgestimmt haben." Konya befürchtet nun – wie viele –, dass andere Länder es Großbritannien gleichtun könnten. Über ein Ende der Europäischen Union will sie gar nicht nachdenken. "Dabei kann kein Land auf sich gestellt überleben." Sie kann nicht verstehen, dass es – etwa in der AfD – Menschen gibt, die die Europäische Union zu einem reinen Staatenbund zurückbauen wollen. Für sie ist es selbstverständlich, dass sich die Staaten auch in sozialen und finanziellen Belangen helfen. "Wenn es nach den Jungen geht, dann wird die EU überleben", sagt Ekelund.

Doch natürlich geht es nicht immer um Politik, Zukunft oder das europäische Projekt. Als Timea Konya in Berlin ankam, war das erste, was sie bewunderte, die S-Bahn. "Selbst der beste Zug in Rumänien war nicht so gut wie diese Züge", sagt sie. Die ersten beiden Wochenenden verbrachte sie damit, in der Ringbahn zu sitzen und die Berliner Landschaft an sich vorbeifahren zu lassen.

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