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Inez Wehrsig-Fehr (1942-1017)

© privat

Berlin: Inez Wehrsig-Fehr (Geb. 1942)

Sollte sie aufhören und all die Sicherheit aufgeben?

Mit 22 stand sie das erste Mal vor einer Schulklasse. 30 Kinder beobachteten sie. Warteten darauf, was diese neue, zierliche Lehrerin nun tun würde. Es war eine normale Schule, mit normalen Grundschülern in dem bürgerlichen Bezirk Wilmersdorf. Keine Rowdies. Aber auf den wirklichen Unterricht, auf den Lärm, die Anspannung, auf die Kinder – und dann auch noch so viele –, war Inez nicht vorbereitet.

Alles über ihr Fach, Deutsch, hatten sie ihr auf der Uni beigebracht. Das war kein Problem. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Stoff machte ihr Spaß. Am liebsten mochte sie die alten Märchen. Ein Bücherregal hat sie mit ihnen gefüllt. Las darin wie andere in einem Roman und schrieb ihre Abschlussarbeit über das „Studium zum Epitheton in ausgewählten Märchen“. Aber für Disziplin sorgen, herumbrüllen und Strafen verteilen, das passte nicht zu Inez. Das konnte sie nicht. Zart war sie, grazil, lieb und verletzlich. Ungeeignet, um vor einer Schulklasse zu stehen.

In diesen ersten Jahren, sie vorne am Pult, die Kinder auf ihren Stühlen, fühlte sie sich oft hilflos und alleingelassen. Sollte sie aufhören und all die Sicherheit aufgeben? Den lebenslangen Beamtenstatus, das feste Einkommen? Außerdem mochte sie ja Kinder und wollte mit ihnen arbeiten. Nein, aufhören konnte sie nicht.

Woran lag das? Ihr Vater war Anwalt, vor und während der Nazizeit. Ob er nur Mitläufer war oder mehr, das wusste Inez nicht. Überhaupt hat sie sehr wenig aus ihrer Kindheit berichtet. Nur so viel: Der Vater war liebevoll zu ihr, an ihn konnte sie sich anlehnen. Er war dann aber viel weg, auf der Suche nach Arbeit, nach Aufträgen, es lief nicht gut. Geld und Essen waren knapp. Der Mangel prägte sie und ihre beiden Brüder. Inez schwor sich, ihren Weg zu gehen, unabhängig zu sein, immer genug und eigenes Geld zu verdienen.

Inez, Ria und Verena waren ein Kleeblatt, drei Blätter, drei Freundinnen. Verena war die Starke, Ria die Schlichterin und Inez die Leise, der Ruhepol. Sie lernten sich kennen, als Inez doch noch einmal studierte. Psychologie an der TU, bei vollem Lehrergehalt, vom Senat bezahlt, um danach als Schulpsychologin an die Schule zurückzukehren. Ihr Kompromiss. Kinder ja, aber die Schulklasse nur noch einmal in der Woche. Diese Arbeit liebte sie. Sie konnte Familien helfen, konnte mit Kindern und ihren Eltern einzeln arbeiten. Kein Tag, an dem sie zu Hause nicht von ihren Kollegen, den Schülern und Eltern sprach. Unzählige Fortbildungen, Ausschüsse und Arbeitsgruppen, die sie absolvierte.

Wenn die drei Frauen den Hörsaal betraten, verdrehten die anderen Studenten die Augen. Diese Streberinnen schon wieder. Ob Vortrag, Hausarbeit oder Diplomarbeit, alles machten sie zusammen, alles machen sie gut, waren ehrgeizig und zielstrebig. Die anderen konnten ruhig revolutionär und idealistisch sein. Sie waren realistisch und sorgten dafür, für sich selber sorgen zu können. Das entsprach ihrer Vorstellung von Feminismus. Es war aber auch diese Art der Ersatzfamilie, die Inez zu diesem Zeitpunkt brauchte. Ihre eigene Familie, ihre Brüder, ihre Mutter und ihr Vater, war in den letzten Jahren gestorben. Die Brüder am schwachen Herz und an den Spätfolgen von Scharlach, die Mutter am Kummer und der Vater am Alter.

Zwischen den Frauen entstand eine Freundschaft, die hielt. Feiern, reisen, einander zuhören, helfen, Klartext sprechen. Was die eine nicht konnte, machte die andere. Hatte die eine Glück, freuten sich die anderen.

Glück war, wie Inez Christof liebte, einzigartig, wahr und groß. Bis zuletzt sprach sie von ihm, bis zuletzt hatten sie sich geliebt und waren verbunden geblieben. Auch wenn sie sich trennten. Auch wenn Inez ihre Tochter mit einem anderen bekam. Aber Christof zog für seine Arbeit als Soziologe nach Bielefeld. Inez wollte nicht aus der Stadt, fort von ihrer Arbeit, ihren Freunden und den Kollegen. Doch noch viel schwerer wog: Inez wollte Kinder – und Christof nicht.

Inez wollte so sehr eigene Kinder, dass sie Wolfgang zum Mann nahm. Er war sehr verliebt in sie, begehrte sie. Auf den Freundesfeiern saß sie auf seinem Schoß und ließ sich von ihm küssen. Mit 42 bekam sie endlich ihre Tochter. „Die beste Entscheidung meines Lebens“, sagte Inez. Kuscheln, Liebe verschenken, da sein. Noch als die Tochter längst ausgezogen war, telefonierten sie jeden Tag miteinander.

Ruhestand: An den Wochenenden schlief Inez bis um zehn, machte sich Tee, las Zeitung und kam langsam, langsam gegen 13 Uhr nach unten. Leichte Vergesslichkeit, ein wenig Furcht, die ersten Anzeichen einer Demenz. Letzte Reisen, letzte Feiern, der Abschied von Wolfgang, die Tochter zieht mit Familie ins Haus, der letzte Geburtstag. Im Oktober 2017 ist sie dann gegangen, so ruhig, so in sich ruhend, wie sie eben war.

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