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Soldaten der Nationalen Volksarmee wurden im August 1972 zur Unglücksstelle in Wildau gerufen. Beim Absturz der IL 62 waren 156 Menschen ums Leben gekommen.

© picture alliance / ZB

Flugzeugabsturz bei Königs Wusterhausen: Die fast vergessene Katastrophe

Es war das schlimmste Flugzeugunglück auf deutschem Boden: Am 14. August 1972 starben 156 Menschen. Königs Wusterhausen entging knapp einem Inferno.

Von Sandra Dassler

Der 14. August 1972 war ein heißer Tag. Viele Bewohner der Siedlung „Am Kirchsteig“ in Königs Wusterhausen hatten es sich auf dem Balkon gemütlich gemacht, saßen beim Kaffee, werkelten im Garten. An die Flugzeuge, die vom elf Kilometer entfernten Flughafen Schönefeld starteten oder dort landeten, hatten sie sich gewöhnt. Doch das „laute, schrille, knatternde Aufheulen der Turbinen“, das an diesem Tag gegen 17 Uhr ertönte, war etwas ganz anderes.

"Da haben viele automatisch nach oben geblickt, und so sahen sie dann auch schreckliche Bilder: das zerbrechende Flugzeug, Mobiliar und Koffer, die durch die Luft gewirbelt wurden – vor allem aber die Menschen“, sagt der 82-jährige Wolfgang Ketelhut. Er stand auf seinem Balkon, als die Maschine der DDR-Luftfahrtgesellschaft Interflug wenige hundert Meter entfernt abstürzte, und rannte sofort los.

„Ich habe gehofft, dass man noch helfen könnte“, erzählt er. Aber keiner der 156 Menschen an Bord der Iljuschin (IL) 62 hatte überlebt. Und den Anblick, der sich Ketelhut und den anderen Helfern bot, hat niemand von ihnen je vergessen können: Viele Opfer waren völlig verbrannt, verformte Körper steckten in den Wiesen oder hingen in den Bäumen.

An der Absturzstelle gibt es einen privaten Gedenkort

Der Absturz von Königs Wusterhausen gilt bis heute als schlimmste Flugzeugkatastrophe in Deutschland. Umso erstaunlicher ist, dass nur wenig daran erinnert. An der Absturzstelle in Königs Wusterhausen fehlte lange jeder Hinweis auf das Geschehen – der kleine Gedenkort, den es dort jetzt gibt, geht auf die private Initiative von Wolfgang Ketelhut und einigen anderen Anwohnern zurück.

Dort soll heute der Opfer gedacht werden. Zuvor werden sich einstige Kollegen der ums Leben gekommenen Crew sowie Feuerwehrleute und andere Beteiligte auf dem Waldfriedhof Wildau treffen, am Denkmal für jene 60 Menschen, deren Gebeine man nach dem Absturz nicht mehr eindeutig zuordnen konnte.

„Man hat entschieden, sie hier in Wildau beizusetzen, weil auf den Friedhöfen in Königs Wusterhausen kein Platz für ein so großes Grab war“, sagt Friedhofsmitarbeiterin Sylvia Poschau. Vor 26 Jahren hat sie hier angefangen. Damals, erzählt sie, hätten noch öfter Blumen am Denkmal gestanden. Mit den Jahren seien es immer weniger geworden. Nie habe sie Angehörige getroffen. „Es kommen interessierte Besucher, die von dem Absturz gehört oder gelesen haben.“

Ein Brand im Heckgepäckraum führte zum Absturz

Auf dem Wildauer Friedhof fand 1972 auch die Gedenkfeier für die Opfer statt. DDR-Ministerpräsident Willi Stoph, der nur wenige Meter vom Denkmal entfernt begraben liegt, soll eine berührende Rede gehalten haben. Danach wurde vorwiegend geschwiegen. Vor allem über die Ursachen der Katastrophe. Zwar hatten DDR-Zeitungen berichtet, dass der Absturz durch einen Brand im Heckgepäckraum der IL 62 ausgelöst worden war. Wie es aber genau dazu kommen konnte, darüber erfuhr die Öffentlichkeit nichts.

„Die Ursachen lagen in der Konstruktion und in der Wartung. Beides wurde in der Sowjetunion vorgenommen. Man wollte die Beziehungen zum sozialistischen Bruderland nicht belasten“, sagt Jörn Lehweß-Litzmann. Er gehörte als junger Luftfahrtingenieur zur Sachverständigenkommission, die durch die DDR-Regierung zur Untersuchung der Absturzursache einberufen worden war. Auch eine Expertengruppe des Herstellerwerks unter Leitung von Generalskonstrukteur Nowoschilow führte parallel dazu Ermittlungen durch.

An das Unglück erinnert ein Gedenkstein auf dem Wildauer Friedhof.
An das Unglück erinnert ein Gedenkstein auf dem Wildauer Friedhof.

© picture alliance/dpa

Da man einen Anschlag ebenso ausschließen konnte wie die gerüchteweise verbreitete These, das Flugzeug sei in seiner eigenen Kerosin-Wolke in Brand geraten, untersuchte das DDR-Expertenteam sorgfältig, wie es zu dem Feuer kommen konnte. „Es fand heraus, dass eine Heißluftleitung unter dem Fußboden des Heckgepäckraumes aufgrund eines Material- oder Montagefehlers undicht geworden war“, sagt Jörn Lehweß-Litzmann und beschreibt, was darauf folgte: „Die Heißluftleitung hat über einen längeren Zeitraum 300 Grad Celsius heiße Luft mit hohem Druck auf einen dicht daneben verlegten Kabelraum geblasen. Die nicht brennbare Isolation der Elektroleitungen verkohlte allmählich und platzte letztlich durch die Vibration ab. Das führte zu Kurzschlüssen und Geräteausfällen bereits kurz nach dem Start.

Der Pilot der von Schönefeld nach Burgas in Bulgarien fliegenden Maschine bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Auf der Höhe von Cottbus meldete er Schwierigkeiten mit dem Stabilisator und kündigte die Rückkehr nach Schönefeld an. Dass es im Heck brannte, konnte er nicht wissen, weil es dort keine Brandmelder gab. Das Feuer führte schließlich zum Zünden von erhitztem Magnesiummaterial der Flugzeugkonstruktion. Ein Kurzschlusslichtbogen zerstörte zunächst die Höhensteuerung und schweißte kurz darauf das gesamte Heck ab.“

Zum Untersuchungsbericht der DDR-Sachverständigenkommission, in dem nicht nur die Ursachen benannt, sondern auch Vorschläge zu entsprechenden Änderungen bei Konstruktion und Wartung gemacht wurden, hat sich die sowjetische Regierung nie geäußert. Generalkonstrukteur Nowoschilow teilte dem DDR-Verkehrsministerium fast ein Jahr nach dem Absturz mit, dass er dem Untersuchungsbericht nicht zustimmen könne, erzählt Jörn Lehweß-Litzmann.

Die Ursache wurde in der DDR verschwiegen - aus Rücksicht auf Moskau

Alle darin geforderten Maßnahmen und Änderungen wurden jedoch vom Herstellerwerk kommentarlos akzeptiert und in den neu gelieferten Flugzeugen umgesetzt. Auch deshalb empfahl der Leiter der DDR-Untersuchungskommission, die Sache auf sich beruhen zu lassen und keine weitere Pressemitteilung zu veröffentlichen. Erich Honecker segnete die Empfehlung im Dezember 1973 mit der Bemerkung „einverstanden“ ab. Erst nach dem Mauerfall wurden Akten gesichtet, Filme gedreht und Zeitungsartikel veröffentlicht. 2012 fand erstmals eine Gedenkfeier statt.

Sie sollte eigentlich erst zum 50 Jahrestag des Absturzes wiederholt werden, sagt Wolfgang Ketelhut, „aber viele unmittelbar Betroffene sind in die Jahre gekommen und fürchteten, ihn nicht mehr zu erleben“. Zu diesen „unmittelbar Betroffenen“ gehören Augenzeugen, Beteiligte an der Aufarbeitung der Katastrophe wie Jörn Lehweß-Litzmann sowie ehemalige Kollegen der acht Besatzungsmitglieder.

Angehörige der Passagiere waren schon vor fünf Jahren nicht dabei. „Vielleicht liegt es daran, dass die meisten aus Sachsen waren und nichts von den Gedenkveranstaltungen wissen“, sagt Jörn Lehweß-Litzmann. „Ich finde es schade – genau wie die Tatsache, dass dieses schwerwiegende Ereignis in den betroffenen Städten, Heimatvereinen, Luftfahrtunternehmen der Region und den politischen Organisationen nicht die gebührende Aufmerksamkeit erhält. Es soll ja auch Mahnung sein, alles Menschenmögliche zu tun, dass sich solche Katastrophen nicht wiederholen.“

Schließlich habe der Absturz nicht nur 156 Menschen das Leben gekostet, sondern auch das Leben vieler anderer nachhaltig geprägt. Manche Feuerwehrleute träumen heute noch vom Trümmerfeld, tragen die Bilder der Opfer in sich. Seelsorger oder Ähnliches gab es damals noch nicht – sehr wohl aber viele Schaulustige und Leichenfledderer, die nicht davor zurückschreckten, die Toten zu bestehlen.

Auch das Tagebuch eines Schulmädchens fand sich in den Trümmern

„Bestimmte Dinge kriegt man einfach nicht mehr aus dem Kopf“, sagt Wolfgang Ketelhut. Er spricht von einem Tagebuch, das er in den Trümmern fand. Ein Schulmädchen hatte mit kindlicher Schrift im Flugzeug angefangen, ein Urlaubstagebuch zu führen, voller Vorfreude und Neugier aufs Schwarze Meer.

Fast noch wichtiger ist den Organisatoren des Gedenkens aber die Feststellung, dass die Crew um den erfahrenen Flugkapitän Heinz Pfaff bis etwa eine Minute vor Abriss des Hecks nicht erkennen konnte, welche Gefahr drohte. Sie habe keine Chance gehabt, den Absturz abzuwenden, und keinen Fehler gemacht – im Gegenteil.

Weil sie wegen des Ausfalls der Höhensteuerung den Triebwerksschub in der letzten Minute noch einmal erhöhte, seien die großen Flugzeugteile erst auf der freien Fläche hinter dem Wohngebiet aufgeschlagen. So wurden nur einige Häuser durch herabfallende Flugzeugteile leicht beschädigt und der Bahnhof verschont, wo zu diesem Zeitpunkt zwei vollbesetzte Züge standen.

Die Steigerung des Triebwerksschubes, die Anwohner als „das laute, schrille, knatternde Aufheulen der Turbinen“wahrnahmen, hat möglicherweise vielen Menschen am Boden das Leben gerettet.

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