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Lesen hilft. Wenn die Kleinen anfangen, Buchstaben zusammenzuziehen, wird die Welt auf eine andere Art neu entdeckt - das kann das Eltern manchmal auch in Erklärungsnot bringen.

© dpa

Familien-Kolumne: "Elternlesen" an Berliner Schulen

Bettgeschichten und Lese-Erlebnisse: Unsere Redakteurin Tanja Buntrock erfährt so einiges, wenn sie in der Schulklasse ihrer kleinen Tochter vorliest.

Neulich Abend war ich mit Tilda im Bett. Danach mit Luise und Lotte. Es gehört bei uns zum Abendritual vor dem Schlafengehen, dass ich meiner Tochter etwas vorlese. Gerade waren wir noch bei „Tilda Apfelkern“, momentan hat es meinem siebenjährigen Mädchen „Das doppelte Lottchen“ von Erich Kästner angetan. Gespannt verfolgt es die Geschichte von den getrennten Zwillingen. Die beiden Romanfiguren begegneten mir bald auch in unserem Alltag: „Mama, wenn ich zwei geflochtene Zöpfe trage, nennst Du mich Lotte. Wenn ich die Haare offen trage, möchte ich, dass Du Luise zu mir sagst“, wies mich meine Tochter eines Morgens an.

So passte es ganz gut, dass ihre Schule wöchentlich „Elternlesen“ anbietet. Toll, dachte ich. Bin ich dabei. Wenn man bedenkt, dass laut „Stiftung Lesen“ ein Drittel der Eltern ihrem Nachwuchs gar nicht vorliest, könnte ich vielleicht etwas Nützliches tun. Natürlich mit dem neuen Lieblingsbuch meiner Tochter unterm Arm. Zunächst war sie stolz wie Bolle und erzählte jedem bereits im Flur vor der Klasse: „Das ist meine Mama. Die liest heute vor." Als ich mich aber vor die Schulanfänger*innen stellte und kurz ein paar „einleitende Sätze“ zu Erich Kästner und den Hinweis „Klassiker“ vortrug, kam für meine Tochter der erste öffentlich-peinliche Moment. „Boah, Mama!!" Dabei rollte sie dramatisch die Augen und schlug ihre Hände über dem Kopf zusammen. „Nun fang’ endlich an zu lesen!“

Die Zwillingsgeschichte kam dann ganz gut an. Klar, diejenigen, die das Vorlesen gewohnt waren, hörten länger aufmerksam zu. Die anderen fingen an, sich zu kneifen oder rutschten unruhig auf dem Stuhl hin und her. Allerdings gelang es mir sowieso nicht, die geplanten Kapitel in einem Rutsch vorzulesen. Die Kinder waren so tief in der Geschichte versunken, dass sie sie mit ihrer Lebenswelt verbanden. Ich erfuhr so einiges. „Mein Opa hat auch einen Zwillingsbruder. Der sieht ihm aber nicht ähnlich“, rief ein Mädchen dazwischen. „Meine Cousins sehen sich ähnlich, aber haben nicht denselben Vater“, stimmte eine andere Mitschülerin ein. „Manche haben auch nicht dieselbe Mutter“, sagte ein Junge.

Kurz war ich geneigt zu ergänzen, dass manche Kinder auch zwei Väter und zwei Mütter haben, aber so weit kam ich ohnehin nicht, denn schon hatte sich ein anderes Kind mit dem Einwurf hervorgetan, dass seine Großeltern bald Goldene Hochzeit feierten. „Gibt es auch Bronze?“, fragte meine Tochter. „Da kenn ich mich nicht so aus“, sagte ich. „Muss ich googeln.“ Woraufhin ein Mädchen bemerkte, dass es bei Lotte und Luise keine Handys gab.„Die haben Briefe geschrieben. Also ich finde das viel schöner.“

Recht hat sie. Aber wer Briefe schreiben möchte, muss lesen können. Meine Tochter zieht nun bei jeder sich bietenden Gelegenheit Buchstaben zusammen. Auch draußen, wenn wir unterwegs sind. „S-E-X-W-O-R-L-D“, buchstabierte sie neulich. Ich war in Erklärungsnot.

Lust, Lesepate/-patin zu werden? Das „Bürgernetzwerk Bildung“ sucht kontinuierlich nach Erwachsenen, die Freude am Vorlesen haben. Infos unter www.vbki.de

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