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Lina, Tabea, Claudia Möcker und Dirk (v. li.), vier der acht Administratoren der Gruppe "Jeder hilft jedem Berlin".

© Georg Moritz

Facebook-Gruppe "Jeder hilft jedem Berlin": Nachbarschaftshilfe im Netz

In der Facebook-Gruppe „Jeder hilft jedem Berlin“ vertrauen User sich der Schwarmintelligenz an. Und das funktioniert ganz gut. Die Administratoren erzählen.

„Vielleicht kennst du das Gefühl, wenn man lieben Menschen helfen möchte, aber nicht kann“, sagt Claudia Mocker. Im Oktober 2011 war das bei ihr der Fall. Mehrere Freunde zogen um, doch fand sich kaum jemand, um anzupacken. „Mich hat das wütend gemacht, vielleicht weil ich als DDR-Kind Freundschafts- und Nachbarschaftshilfe als selbstverständlich empfinde.“ Die Idee zur Facebook-Gruppe kam aus der Not. Entstanden ist daraus „Jeder hilft jedem Berlin“.

Über die Jahre ist „Jeder hilft jedem Berlin“ auf mehr als 29.000 Mitglieder herangewachsen, darunter acht Freiwillige, die Beiträge freigeben und gegebenenfalls kommentieren oder löschen, wenn es sein muss. Bis zu 50 Beiträge werden täglich gepostet. Sie lesen sich wie eine Mischung aus Gelben Seiten, persönlichen Empfehlungen, Tagebuch und Kummerkasten, gerade wenn es etwa um Krankheit und Familie geht.

Auch Vermisstenfälle oder Falschfahrer-Meldungen werden geteilt. Zwischendurch wird etwas verschenkt, Lebensmittel, Shampoo, eine Schrankwand. Und immer wieder geht es um Ratschläge: Was tun, wenn man versehentlich ein Abo abgeschlossenen hat? Wohin, wenn man einen Tätowierer sucht, der auf Löwenmotive spezialisiert ist; wenn ein spezialisierter Arzt gebraucht wird oder der Kontakt zu einer Obdachlosen-Beratungsstelle. Wer hat den entlaufenen Hund gesehen, die Katze, das gestohlene Fahrrad?

Ein Nutzer fuhr eine kranke Frau ins Krankenhaus

Hinter der Facebook-Gruppe verbirgt sich eine Art modernes Ehrenamt, ein soziales Netzwerk im social network. Man hilft, wenn man gerade kann, ohne gebunden zu sein – und man vertraut auf das Wissen von vielen, die Schwarmintelligenz. Auf Facebook gibt es ähnliche Gruppen mit mehreren Tausend Mitgliedern: „Nett-Werk Berlin“, „Sharing is Caring“ oder die englischsprachige Gruppe „Free Advice Berlin“. Jede Mikrogemeinschaft hat ihre Regeln, auch „Jeder hilft jedem Berlin“. Die wichtigsten: Was nicht direkt mit gegenseitigem Helfen zu tun hat, gehört nicht hierher. Genauso wenig wie rassistische Kommentare.

„Ich fand die Gruppe sehr gut, weil nicht so viel gemobbt wurde“, sagt Susanne, die wie die meisten Administratoren nicht mit ihrem vollen Namen erwähnt werden will. Am meisten berührt hat sie die Geschichte einer Tochter, die für ihre immer schwächer werdende Mutter nach Hilfe suchte. Scheinbar konnte ihr bis dato kein Arzt helfen. „Irgendwann in der Nacht hat sich ein User aus der Gruppe ins Auto gesetzt und sie in das von vielen empfohlene Bundeswehrkrankenhaus gebracht. Dort wurde ein Nierenversagen diagnostiziert.“ Ohne Behandlung wäre die Frau wohl kurz darauf gestorben. „Das sind Sternstunden, wenn sich doch noch was Gutes entwickelt“, sagt Dirk, ebenfalls Administrator und im analogen Leben Psychotherapeut.

Auch die Studentin Laura hat über „Jeder hilft jedem Berlin“ schon Hilfe gefunden. Für ein Fotoprojekt, in dem sie stotternde Menschen porträtieren wollte, suchte sie Modelle. „Als angehende Fotojournalistin finde ich die Gruppen extrem praktisch.“ Eigentlich gebe es fast immer jemanden, der den richtigen Tipp hat, die richtige Hilfe bietet.

Gruppen dieser Art sind auch für Mark Zuckerberg interessant

„Es gibt Menschen, die ein Thema gerade besonders beschäftigt und die dann entsprechend oft posten, oder Leute, die Zeit haben und viel Hilfe anbieten“, erklärt Administratorin Lilly. Unter manchen Posts brechen emotionale Kontroversen aus, die dutzendfach kommentiert werden – ganz extrem war das kürzlich im Falle eines 18-Jährigen, der klagte, er sei von zu Hause rausgeschmissen worden. Nach vielen Kommentaren, den unterschiedlichsten Meinungen dazu, was er jetzt tun müsse, wurde die Kommentarfunktion ausgeschaltet. „Wer helfen möchte, sendet dem jungen Mann eine private Nachricht mit einem konkreten Hilfsangebot“, lautete die Anweisung der Administratoren. Diskussion beendet.

Für die einen ist es Hilfe, für die anderen harte Arbeit. „Administrieren ist manchmal auch nervig, man muss viele persönliche Angriffe aushalten. Da ist ein guter Zusammenhalt untereinander wichtig“, sagt Lilly, die seit fünf Jahren dabei ist. Sie hat auch bemerkt, dass nicht nur die Gruppe kontinuierlich wächst, sondern auch Fake-Profile und Spambots zunehmen, die falsche Angebote, etwa für Kredite, machen.

Nicht nur für die Absender von Spam-Nachrichten sind große, kommunikative Gruppen wie „Jeder hilft jedem Berlin“ interessant, sondern auch für Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Er will den „gesellschaftlich relevanten Gruppen“, wie er sie im Februar nannte, eine bessere Bühne bieten. Er verkündete, dass schon mehr als 100 Millionen Menschen Mitglieder in Hilfe-Gruppen auf Facebook sind. Die würden damit „schnell zum wichtigsten Teil der Erfahrungen in unserem sozialen Netzwerk“.

Die Nachbarschaftshilfe, die Claudia Mocker vor ein paar Jahren vermisste, ist also nicht verschwunden. Sie sieht heute nur vielleicht etwas anders aus.

Natalie Mayroth

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