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Spurensuche im Mordfall der Kunsthistorikerin.

© Paul Zinken/dpa

Ermordete Frau im Tiergarten: Der Mord nebenan

Der Tod der 60-jährigen Kunsthistorikerin interessiert die Obdachlosen am Bahnhof Zoo nur beiläufig. Bei ihnen geht es jeden Tag ums Überleben.

Jetzt ist doch tatsächlich einer durchs Erdbeerfeld getrampelt, kann doch nicht wahr sein. Dabei hatte Dieter extra gewarnt. „Vorsicht, hier ist das Erdbeerfeld“, hatte er gesagt. Und, was hat’s gebracht? Der Fußgänger ist einfach weiter gelatscht.

Ist ja aber auch schwer zu erkennen, das Feld. In der Realität liegt ein schmutzig-grauer Bürgersteig unter einer Eisenbahnbrücke am Bahnhof Zoo, in Dieters Phantasie hängen hier rote, reife Erdbeeren, jedenfalls auf dem Streifen zwischen Straße und seiner Matratze mit seinem Schlafsack. Dieter schreit oft „Vorsicht Erdbeerfeld“, wenn Passanten vorbeikommen. Die meisten lachen dann, weichen aus und werfen Geld in seine Mütze. Dieter lacht dann auch. „Man muss doch ein paar Sachen mit Humor nehmen.“ Der Alltag ist grausam genug.

Tatort um die Ecke

100 Meter weiter lag vor wenigen Tagen die 60-jährige Susanne F., eine Kunsthistorikerin, ermordet im Gebüsch.

Gleich hier am Tatort leben Obdachlose, Menschen wie Dieter, die alles, was sie besitzen, am Leib tragen. Der Ehemann der Kunsthistorikerin hat bei der verzweifelten Suche nach seiner Frau auch Dieter gefragt, ob der seine Gattin gesehen hat. Und er hat Ingeborg gefragt, die neben Dieter sitzt, das blonde Haar zusammengebunden, 39 Jahre alt, seit mehr als einem Jahr auf der Straße. Dieter und Ingeborg und andere Obdachlosen, rund ein Dutzend insgesamt, leben unter der Brücke am Bahnhof Zoo. Mit den Obdachlosen neben dem Bahndamm, wo die Tote lag und die Polizei den Tatort immer noch mit Plastikbänden absperrt, haben sie wenig zu tun.

Der Mord an der Kunsthistorikerin Susanne F. war hier, unter der Brücke, nur kurze Zeit ein Gesprächsthema. Am Tag nach dem Fund der Leiche, war der Vorfall bereits wieder abgehakt. Zynismus? Nein, nur der brutale Alltag von Menschen, die ihre eigenen Regeln haben. „Natürlich war ich schockiert“, sagt Ingeborg, „aber bei dem Leben, das wir hier führen, gibt es so viele Dinge, die fast noch erschreckender sind.“ Erschreckender als Mord? „Nicht erschreckender als Mord, aber ich kenne Geschichten, da sind Obdachlose im Schlafsack angezündet worden.“ Tödliche Bedrohungen sind Wohnungslosen nicht fremd.

Überlebenskampf - jeden Tag

Eine makabre Sichtweise für Menschen, die nicht in dieser Szene leben. Aber eine völlig normale für Menschen wie Ingeborg, die sich an ganz anderen Maßstäben orientieren. Die Wahrnehmung des Alltags reduziert sich aus Sicht von Ingeborg auf einen Satz: „Wir kämpfen hier jeden Tag um unser Überleben.“

Man muss das nicht immer wörtlich nehmen. Überleben heißt hier auch: Wo bekomme ich mein Essen? Wie schütze ich mich vor Diebstahl, vor Prügel? Und ja, auch: Woher bekomme ich meinen Alkohol? „Da relativiert sich so ein Mord“, sagt Dieter. Es interessiert Menschen wie Dieter auch eher beiläufig, dass die Polizei im Mordfall F. bisher vier Hinweise aus der Bevölkerung erhalten hat.

Vom Gefängnis auf die Straße

Dieter trägt ein T-Shirt, auf dem unter einem Firmen-Logo das Wort „Erlebnisreisen“ steht. Dieter war im Knast, kam danach nicht mehr auf die Beine und lebt jetzt „seit längerer Zeit“ obdachlos unter der Brücke. Der 33-Jährige trägt einen Drei-Tage-Bart und sieht einigermaßen gepflegt aus, auch weil er im Hygiene-Zentrum um die Ecke zum Duschen geht.

Auch Ingeborg hat eine Freiheitsstrafe hinter sich, auch sie kam nicht mehr klar, sie redet durchaus gewählt, sie hat einen konzentrierten Blick, trägt helle Turnschuhe, und wenn sie nicht so schlechte Zähne hätte, würde man sie nicht in der Obdachlosenszene verorten. Aber auch sie zeigt, spöttisch fast, auf ihren grauen Pullover und ihre grüne Jacke. „Wo hätte ich meine Sachen einlagern sollen? Ich habe alles, das ich besitze, am Körper.“

Die Straße als Heimat

Die 30 Meter unter der Brücke sind so etwas wie Heimat. Dieter und die anderen haben sich die Regel gegeben, dass sie freundlich zu Passanten sind, dass hier nur Leute leben sollen, die keinen Stress machen. Auch der rote Regenschirm, der aufgespannt in einem Einkaufswagen steht und von einer Seite ein paar Matratzen verdeckt, gehört zum Gefühl von Geborgenheit. „Ein Sichtschutz“, sagt Ingeborg, „man will ja auch ein bisschen Privatsphäre haben.“

Nur das imaginäre Erdbeerfeld ist nicht bloß Flucht in eine heile Phantasie, es verbindet auch die Welt der Dieters und Ingeborgs mit denen der Passanten. Übers Erdbeerfeld kommen sie mit Leuten in Kontakt, mit lockeren Sprüchen wird die Kluft zwischen Obdachlosen und gutbürgerlichen Fußgängern überwunden. Das sind Momente, in denen sich Ingeborg an früher erinnert, an bessere Zeiten. „Ich hatte mal das“, sagt sie, „was man ein normales Leben nennt.“

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