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Früher gedenken: In Grunewald legten am Freitag auch die Jüngsten weiße Rosen nieder.

© Thilo Rückeis

Erinnerung an die Juden-Deportation in Grunewald: Eine nüchterne und tränentreibende Abschiedsstunde

Abschiedsstunde an Gleis 17: Vor 72 Jahren begannen am Bahnhof Grunewald die Deportationen der Juden. Am Freitag gab es eine Gedenkveranstaltung am Bahnhof - und auch die Jüngsten kamen.

Der Jazz-Klassiker von Mal Waldron, über den die Saxofonistin Kathrin Lemke zu Beginn improvisiert, heißt „Left alone“. Das Thema klingt nicht abgrundtief verzweifelt, die Akkorde verharren wie ein alter Hymnus, in der Schwebe zwischen feierlichem Ernst und bewegten Fragen. Die Kulisse dieser Gedenkstunde ist heiter- herbstlich. Wolken, Sonne, Wind, bunte Blätter. Einer der Veranstalter, ein Politiker und ein Rabbiner sagen Grußworte. Eine rote E-Lok zieht im Hintergrund einen Güterzug vorbei.

Das Besondere der Veranstaltung, die in dieser Art zum dritten Mal stattfindet und von den NS-Gedenkstätten im Berliner Raum, dem Senat, der Jüdischen Gemeinde und der Deutschen Bahn getragen wird, liegt in ihrem hohen Anspruch. Auf Bezirksebene gab es früher schon mal Erinnerungsaktionen zum Jahrestag, an dem 1941 Berliner Judendeportationen „nach Osten“ begonnen hatten . Mit der Begründung des Rückblick- Rituals in dieser Form wurde vor drei Jahren der Versuch unternommen, nun aber möglichst viele Bürger einmal im Jahr am Deportationsort zu versammeln.

Mit Denk-Zeichen für die schreckliche Logistik des Völkermordes ist dieser Bahnhof versehen. An der Böschung neben dem Eingang scheinen aus einer Betonwand menschengroße Umrisse herausgerissen. Daneben steht eine Inschrift: „Zur Mahnung an uns, jeder Missachtung des Lebens und der Würde des Menschen mutig und ohne Zögern entgegenzutreten.“ Nüchterner wirkt das Kunstwerk „Gleis 17“ auf dem Perron der Judentransporte, die dort nebeneinander mit Datum, Passagierzahlen und Bestimmungsort längs der Bahnsteigkante als metallene Schrift aufgelistet sind.

Doch der Aufruf an die Berliner, sich am 18. Oktober hier einzufinden, soll mehr auslösen als betroffene Erinnerungsmomente. Die Zivilgesellschaft der Nachgeborenen wird eingeladen zu demonstrieren, dass sie Verantwortung übernimmt für das Wegschauen ihrer Eltern und Großeltern und selbst daraus lernt. 2012 kamen mehr als tausend Teilnehmer und legten an den Schienen eine weiße Rose nieder. Mancher Veranstalter fragte sich in diesem Jahr nervös: wie viele es diesmal sein werden? Und was das heißt, wenn sie ausbleiben.

50 000 jüdische Frauen, Männer und Kinder aus Berlin sind bis 1945 ermordet worden. In dem ersten Deportationszug, der am 18. Oktober 1941 nach Lodz startete, befand sich der Danziger Redakteur Fritz Hirschfeld. Sein Cousin Walter Frankenstein, 89, hält diesmal an Gleis 17 die Gedenkrede. Hirschfeld war 1935, aus dem KZ entkommen, nach England emigriert, 1936 aus Heimweh zurückgekehrt. Am 16. Oktober 1941 sollte er sich in der Sammelstelle einfinden, am Vorabend haben Frankenstein und seine Frau ihn verabschiedet.

Der Cousin meinte, er müsse „in den Osten, um zu arbeiten“, wollte sich für die Kälte zwei Mäntel einpacken. Das Abschiednehmen ging den Frankensteins, die bald darauf Eltern wurden, so an die Nieren, dass sie sich sagten: „Mit uns lassen wir das nicht machen.“ Mit ihrem kleinen Kind sind sie untergetaucht, wurden zeitweise in Leipzig von dem Arbeiter Theodor Kranz versteckt. Am Montag wird der 1980 verstorbene Kranz als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt, die höchste Würdigung, die der Staat Israel Nichtjuden verleiht. Seine Großnichte wird die Urkunde der Gedenkstätte Yad Vashem in der israelischen Botschaft entgegennehmen.

Die meisten Teilnehmer an Gleis 17 sind in ihrer zweiten Lebenshälfte; wer wird in zehn Jahren noch kommen? Schüler des Max-Planck-Gymnasiums fragen: „Was bedeutet dieses Datum, 72 Jahre später, für uns heute?“ Sie haben Biografien Deportierter recherchiert. Und berichten, dass über ihr Schulgelände eine Straße führte, in der 160 Juden gewohnt hatten.

Sie schreiben an die siebenjährige Bronka: „Liebe Bronka, eigentlich wissen wir ganz wenig über dich. Was hast du gespielt? Vielleicht mochtest du Tiere?“ Juden, sagen die Schüler, durften keine Haustiere halten. Sie lesen aus Briefen der 12-jährigen Doris, die darauf hofft, in Polen wieder mit ihren Eltern aus Guben zusammenzukommen. „Ich will mich abhärten“, schreibt das Mädchen an seine Mutter, deswegen trage es jetzt bei 12 Grad Minus keine Stiefel, und sie fragt: „Wo bleibt denn eigentlich die Zeit?“

Eine nüchterne, tränentreibende Abschiedsstunde. In diesem Jahr sind nur ein paar hundert Berliner gekommen, auf die Intensität und Bedeutung dieser besonderen Begegnung hat das keinen Einfluss. Zuletzt spielt die Saxofonistin ihre Komposition, „Good Bye Cry“. Ganz verzweifelt klingt das nicht, die Melodie bricht ab als Frage in der Schwebe.

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