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Es gibt viele Gründe weswegen Eltern sich gegen mehrere Kinder entscheiden - hohe Erwartungen an sich selbst zum Beispiel.

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Ein-Kind-Familien in Berlin: Die meisten Frauen hätten lieber mehr als ein Kind

In Berlin lebt in mehr als der Hälfte aller Familien nur ein Kind. Das ist oft keine Absicht. Denn die meisten Eltern wünschen sich weiteren Nachwuchs.

Der Morgen beginnt für Stefanie Fröhlich ohne große Eile. Denn ihre Tochter Bettina (beide Namen geändert) ist schon 15 Jahre alt. Sie steht alleine auf, macht sich ihr Frühstück und auch nach der Schule braucht sie keine Betreuung mehr. „Wir sind mittlerweile wie zwei beste Freundinnen – das ist die schönste Zeit des Mutterseins“, sagt Stefanie Fröhlich. Kein Stress mehr, keine Erziehungskonflikte – und vor allem muss sie kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie Vollzeit arbeiten geht.

Fröhlich ist Cutterin für verschiedene Fernsehsender – und wenn die 45-Jährige zur Arbeit geht, kommt sie erst zehn Stunden später zurück. Ein zweites Kind hätte sie sich niemals vorstellen können. Das ständige Organisieren einer Nachmittagsbetreuung. Und was, wenn das Kind mal krank ist? „Dem hätte ich nicht noch ein zweites Mal gerecht werden können“, sagt sie. Ohnehin trennte sie sich nach einigen Jahren von dem Vater ihrer Tochter.

Frauen wie Stefanie Fröhlich gibt es viele, sie wollen arbeiten, unabhängig von einem Partner sein und haben sich deshalb für nur ein Kind entschieden. Mittlerweile wächst in Deutschland jedes vierte Kind ohne Geschwister auf, in Berlin ist es sogar jedes dritte. 57 Prozent der Berliner Familien sind laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg Ein-Kind-Familien. Und nur in 11 Prozent der Familien leben drei oder mehr minderjährige Kinder.

Die meisten Frauen wünschen sich mehr Kinder

Doch ist das tatsächlich für die Mehrheit der Familien das angestrebte Ideal? Nein. Betrachtet man die Statistiken, kann man davon ausgehen, dass die Ein-Kind-Familie nicht die ursprünglich gewünschte Lebenskonstellation der meisten Eltern ist. „Nur wenige Frauen und Männer wünschen sich, dass es bei einem Kind bleibt, die meisten wollen eigentlich zwei Kinder“, sagt Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB).

Fragt man Frauen zwischen 20 und 39 , wie viele Kinder sie sich wünschen, möchten die meisten von ihnen (53 Prozent) zwei Kinder haben. Gerade einmal elf Prozent der Frauen geben an, dass sie exakt ein einziges Kind möchten. Und immerhin 25 Prozent der Frauen würden sich sogar für drei oder mehr Kinder entscheiden, ginge es alleine nach ihren Wunschvorstellungen.

In der Realität sieht das allerdings ganz anders aus. „Der Kinderwunsch ist wesentlich höher als die tatsächliche Geburtenzahl", sagt Familienforscher Bujard. So haben bundesweit betrachtet 25 Prozent der Frauen nur ein Kind – in Berlin sind es sogar 32 Prozent der Frauen. „Mehr als die Hälfte der Frauen mit einem Kind hatte eigentlich andere Pläne“, sagt Bujard. Doch woran liegt es, dass Wunschvorstellung und gelebte Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen? Eltern in Berlin und anderswo in Deutschland sich immer häufiger gegen ein zweites oder gar drittes Kind entscheiden?

Auch ein Rennen gegen die Zeit

Auch Monika Deich (Name geändert) ist eine Mutter aus Berlin mit nur einem Kind. Sie lebt nicht wie Stefanie Fröhlich in Trennung von ihrem Partner, sondern sie und ihr Freund hätten gern noch ein zweites Kind. Doch Deich ist bereits 40 Jahre alt. Mit dem Schwangerwerden klappt es nicht so recht. „Ich befürchte, ich habe zu lange gewartet“, sagt die Journalistin. „Wenn eine Frau mit 35 Jahren das erste Kind bekommt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es bei dem Versuch für ein zweites Kind nicht mehr funktioniert“, sagt Bujard.

Ab Mitte 30 lässt die Fruchtbarkeit nach. Das wissen eigentlich die meisten Frauen. Der Wissenschaftler hält es allerdings für fatal, wenn Frauen lesen, dass zum Beispiel eine Janet Jackson noch mit 50 ein Baby bekommen kann. „So etwas ist die absolute Ausnahme und weckt falsche Hoffnungen“, sagt er. Auch die Reproduktionsmedizin hat ihre Grenzen. Und Eizellenspenden, mit denen sich viele prominente Hollywood-Frauen im Großmutteralter ihren Kinderwunsch erfüllen, sind in Deutschland verboten.

„Wenn eine Frau zwei Kinder auf natürlichem Weg haben möchte und mit 34 Jahren beginnt, hat sie eine statistische Chance von 75 Prozent, dass es auch tatsächlich klappt“, sagt Bujard. Für eine höhere Chance müsste sie früher anfangen. „Die Wahrscheinlichkeit erhöht sich auf 90 Prozent für Frauen, die mit 27 Jahren versuchen, den Kinderwunsch umzusetzen“.

Selbst wenn Monika Deich diese Statistik mit 27 Jahren gekannt hätte, wäre ihre Situation heute nicht anders. „Ich habe lange nicht den passenden Partner gefunden und wollte keine alleinerziehende Mutter sein“, sagt sie. Mit 33 traf sie dann den richtigen Mann, mit 36 bekamen sie ihren Sohn und erst mit 39 fühlte sie sich bereit für ein zweites Kind. „Ich fand es superanstrengend mit einem Kind und wusste nicht, wie ich zwei kleinen Kindern gerecht werden sollte“. Auch aus beruflichen Gründen wollte sie sie nicht sofort an die erste Elternzeit eine zweite direkt anschließen.

Auch Trennungen spielen eine Rolle

Das Alter der Frauen ist allerdings auch nur einer von vielen Gründen, weshalb Paare den Schritt zu einem zweiten Kind nicht wagen. Auch Beziehungsprobleme und nicht zuletzt Trennungen spielen laut Familienforscher Bujard eine wesentliche Rolle. Mehr als jede dritte Ehe wird in Deutschland geschieden. Und auch wenn viele Paare trotz Streitigkeiten dem Nachwuchs zuliebe länger zusammenbleiben, sind Kinder teilweise auch die Ursache, weshalb Beziehungen auseinandergehen. Die meisten Scheidungen von jungen Paaren erfolgen drei bis vier Jahre nach der Geburt des ersten Kindes, besonders häufig findet die Trennung schon vor dem ersten Geburtstag des Kindes statt.

„Viele Eltern sind von den Anforderungen überrascht, die die Geburt und die Betreuung eines Kindes mit sich bringt“, sagt Bujard. Und eine Studie des Max- Planck-Instituts für demografische Forschung zeigt: Je unzufriedener Eltern mit ihrem Leben unmittelbar nach der Geburt des ersten Kindes sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie noch ein zweites Kind bekommen. Und Kinder bringen anfangs eben nicht nur Glück. So gaben 70 Prozent der Studienteilnehmer an, im ersten Jahr ihrer Elternschaft unzufriedener gewesen zu sein als in den Jahren davor. Und von den Eltern, die einen besonders großen Glücksverlust erlitten hatten, bekamen nur die allerwenigsten ein weiteres Kind.

Und das Geld natürlich ebenso

Nicht selten entscheidet aber auch die finanzielle Situation darüber, wie viele Kinder in einer Familie auf die Welt kommen. Mit jedem Kind steigt die Gefahr, in die Armut abzurutschen. Mit drei Kindern liegt die Armutsgefährdungsquote bei 25 Prozent, mit zwei Kindern bei 11 Prozent. Höhere Risiken für Altersarmut gehen damit einher. Auch Paare, die in die Erziehungs- und Familienberatung der Caritas kommen, würden genau abwägen, ob sie sich den Wunsch für ein weiteres Kind wirklich erfüllen können und das auch möchten, erzählt Bernhard Huf, Leiter der Beratungsstellen bei der Caritas in Berlin.

„Zukunftssorgen und Existenzängste spielen dabei eine besonders große Rolle“, sagt Huf. Manche Paare seien auf zwei volle Einkommen angewiesen und könnten es sich schlicht nicht leisten, dass entweder die Mutter oder der Vater noch einmal für ein Jahr zu Hause bleibt – und das trotz Elterngeld. Manchmal seien die Sorgen existenziell, manchmal ginge es auch nur darum, den gewohnten Lebensstandard aufrechtzuerhalten. „Kindererziehung frisst Zeit und Ressourcen und darunter leiden auch die Beziehungen“, sagt Huf. Viele Eltern seien hin- und hergerissen: Sie müssen Geld verdienen, im Beruf Leistung zeigen, dann am Abend noch den Familienpapa oder die Mama geben und gleichzeitig die Liebesbeziehung zum Partner pflegen. „Das halten viele auf Dauer nicht durch“.

Zu hohe Ansprüche an sich selbst

Er beobachte aber auch, dass manche Eltern sich unnötig unter Druck setzen, weil sie zu hohe Anforderungen an sich selbst, aber auch an ihre Kinder stellen. „Sie möchten sie bestmöglich fördern, mit musikalischen und sportlichen Angeboten“. Aus einem gewöhnlichen Kindergeburtstag werde heute ein großes Event. Und auch von den Schulen werde viel mehr als früher verlangt. „So viel Aufmerksamkeit lässt sich vielleicht noch mit einem Kind vereinbaren, bei einem weiteren oder gar mehreren Kindern wäre der gleiche Aufwand für viele Eltern nicht mehr zu schaffen“, prognostiziert Huf.

Und Christine Schirmer von der Beratungsstelle von Pro-Familia sagt: „Die finanzielle Situation ist einer der Hauptgründe, weshalb Eltern damit hadern, ob sie noch ein weiteres Kind bekommen oder nicht“. In ihrer Beratung für werdende Eltern begegnet sie immer wieder Frauen, die sich gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden würden, hätten sie eine gesicherte Arbeitsstelle – oder zumindest eine stabile Paarbeziehung. „Wer von vornherein weiß, dass er wahrscheinlich in einigen Jahren alleinerziehend sein wird, entscheidet sich im Zweifel gegen ein Kind“, sagt Schirmer.

Jeder wisse schließlich, welches Armutsrisiko damit verbunden sei. Hinzu kommt das Thema bezahlbarer Wohnraum. „Wenn künftige Eltern merken, dass sie mit ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung bald nicht mehr zurechtkommen, sich aber keine größere Wohnung mehr leisten können, dann beeinflusst auch das die Entscheidung über einen weiteren Kinderwunsch“, sagt Schirmer. Nicht zuletzt macht die Pro-Familia-Beraterin die prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt für die geringe Geburtenrate mitverantwortlich. „Viele Frauen haben nur einen befristeten Vertrag, wenn sie das erste Mal schwanger werden – und der wird dann häufig nach der Elternzeit nicht mehr verlängert.“

Und dann wird die Arbeit wieder wichtiger - trotzdem: Kinder bringen Glück

Ist das Kind etwas größer, freuten sich die Frauen, wenn sie endlich wieder in den Job zurückgefunden haben und zögerten die Entscheidung für ein weiteres Kind lieber hinaus. Die gleichen Probleme haben aber auch die Väter – wie die Sozialpädagogin in ihren Beratungsgesprächen häufig feststellen muss. Die offiziellen Zahlen geben ihren Beobachtungen recht. Laut dem Statistischen Bundesamt hat sich der Anteil der befristeten Arbeitsverträge der 25- bis 34- Jährigen in den letzten 25 Jahren mehr als verdoppelt, von 8,5 auf 17,9 Prozent.

So viele Argumente gegen mehrere Kinder – und doch zeigt die bereits zitierte Studie des Max-Planck-Instituts: Zumindest langfristig betrachtet, wirken sich mehrere Kinder eher positiv auf das Lebensglück von Eltern aus. Bernhard Huf von der Caritas macht den Eltern, die sich den Schritt zum zweiten Kind nicht trauen, zusätzlich Mut: „Das Leben von Eltern wird leichter, wenn zwei oder drei Kinder in der Familie leben.“ Dann verteilt sich seiner Ansicht nach die Aufmerksamkeit besser, die ständige Eins-zu-Eins-Betreuung entfällt, die Geschwister beschäftigten sich gegenseitig.

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