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Geht doch! Spaziergänger in Berlin.

© imago stock&people

Die Schwächsten im Großstadtverkehr: Berliner Spaziergänger haben es schwer

Radler halten sich für die besseren Verkehrsteilnehmer, dabei ist Spazierengehen genauso bio und nachhaltig. Es hat bloß keine Lobby. Das muss sich ändern. Ein Kommentar.

Ich hasse sie, diese Heiligenscheine, mit denen sich Radfahrer in der Öffentlichkeit gerne schmücken. Vielleicht gibt es ja wirklich den einen oder anderen Engel unter ihnen, nur begegnen die mir nie. Stattdessen kreuzen auf Berlins Bürgersteigen jede Menge unbeleuchtete Raser-Radler meinen Weg, gerne mit verstöpselten Ohren, weshalb sie meine kritischen Hinweise gar nicht hören. Ist mal einer nicht verstöpselt, ist er um eine flotte Antwort nie verlegen. Raten Sie mal, welche es in der Regel ist:

a) Entschuldigen Sie bitte, dass ich auf dem Gehweg fahre!

b) Leider habe ich drei Bier getrunken und traue mich deshalb nicht auf die Straße, sorry!

c) Verpiss dich, blöde Kuh!

Richtig, wir sind ja in Berlin. Antwort c) ist noch die druckfähigste aus der Kollektion, die ich über die Jahre so gesammelt habe.

Fußgänger sind die schwächsten Verkehrsteilnehmer

Ja, ich bin eine leidenschaftliche Fußgängerin. Obwohl ich damit zu einer ignorierten, missachteten, gefährdeten Großstadtspezies gehöre, einer Minderheit ohne Lobby, ohne Verteidiger und auch ohne Verklärer. Vielleicht finden sich ja irgendwann Mitstreiter, die Toleranz auch uns gegenüber einfordern. Das würde ich mir wünschen. Es ärgert mich nämlich rasend, dass Radfahrer immer als die besseren Menschen dargestellt werden. Grün und gesund: die hehren Ritter der Nachhaltigkeitsgesellschaft, die Heiligen der Öko-Kultur. Ein bisschen Märtyrerkult kommt noch hinzu: die armen Radler, immer so gefährdet. Sind sie natürlich, aber auch Fußgänger kommen im Verkehr zu Schaden. Sie sind sogar dessen schwächste Teilnehmer, weil sie nicht nur unters Auto, sondern auch unters Rad kommen können. Aber darüber wird selten gesprochen.

Hier geht es nicht um Opfer oder Täter. Es geht darum, dass wir gegenseitig Rücksicht nehmen müssen. Und auch mal das beschränkte Sichtfeld eines Anderen zur Kenntnis zu nehmen.

schreibt NutzerIn base51

Die Radler haben eine knallharte Lobby. Vermutlich ist es der Verband der Fahrradverkäufer, der da aus dem Hintergrund seinen Einfluss geltend macht. Die Flaneure dürfen sehen, wo sie bleiben. Klar, welche Geschäftsinteressen könnten sich auf sie auch fokussieren? Schuhe trägt ja jeder.

Natürlich gehe ich nicht ausschließlich zu Fuß. Wenn ich in Eile bin, nehme ich die S- oder U-Bahn, wenn ich in schlecht erreichbare Gegenden muss oder schwere Sachen transportiere, fahre ich Auto. Im Keller steht sogar noch ein Rad, aber irgendwann habe ich die Lust daran verloren. Wahrscheinlich wegen der vielen abschreckenden Beispiele – so rücksichtslos, so pharisäerhaft und aggressiv wie die Radler, die ich täglich erlebe, will ich einfach nicht sein.

Im schlimmsten Fall rempelt man mal jemanden an

Ich bin Genussmensch, deshalb flaniere ich. Wenn ich ein Ziel und einen Termin habe, gehe ich auch mal strammer. Das Schlimmste, was man anderen Menschen dabei antun kann, ist, sie anzurempeln. Sonnabends im Advent auf dem Tauentzien kann das passieren, aber sonst ist die Wahrscheinlichkeit gering.

Überzeugte Fußgänger hätten also allen Grund, sich ebenfalls über andere zu erheben und wie bessere Menschen zu fühlen. Tun sie aber nicht – die meisten, die ich kenne, sind nette, ausgeglichene Menschen. Meist haben sie ein ruhiges Naturell und einen guten Blick für Details, sie verstehen es, das richtige Maß zu finden. Zu Fuß zu gehen, mal schneller, mal weniger flott, ist ja eigentlich die am nächsten liegende Betätigung überhaupt, um sich gesund und fit zu halten, weil man außer einem Paar Schuhe wirklich überhaupt keine Gerätschaften dafür braucht. Es macht Spaß und kostet nichts. Aber es macht auch nicht viel her, und das ist vermutlich der Grund, warum es so gering angesehen ist.

Übrigens gehe ich nicht nur spazieren, ich flaniere auch gerne mal durch die Geschäfte. Wenn mir Leute erzählen, dass sie überhaupt keine Zeit zum Einkaufen haben und ihre Klamotten deshalb alle im Internet bestellen, macht mir das so wenig Eindruck wie die selbstverliehenen Heiligenscheine der Radfahrer. Auch ich arbeite viel, könnte aber nicht so viel leisten, wenn ich mir nicht auch mal Zeit für einen Spaziergang oder einen Shoppingbummel nähme. Wer zu Fuß geht, vielleicht sogar ohne Musik, hat oft die besten Ideen. Und die sparen am Ende die Zeitdifferenz wieder ein, die zwischen einem entspannten Spaziergang und einer rasenden Radfahrt liegt.

Dieser Text erschien als Rant im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

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