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Die Alten kommen!: Berlin ist das neue Mallorca

Berlin statt Balearen: Die Alten kommen! Marius Müller-Westernhagen und Udo Lindenberg wollen hierher, viele weniger bekannte Senioren sind längst da. Warum ist die Hauptstadt für sie so attraktiv? Vier Beispiele.

Egon Ammann, 69

Das gute Leben, das lebendige, neugierige Leben: Das reizt mich an Berlin. Ich mag die Eckigkeit der Stadt, das Ruppige. Da weiß man, woran man ist. Man kann ja zurückschießen. Hier in Zürich ist es mir viel zu süßlich. Deswegen ziehen meine Frau und ich in einem Monat nach Berlin. Das ist eine Auswanderung, wir behalten keine Wohnung, nichts zurück. Ich verlasse Zürich ohne Träne, 33 Jahre sind genug. Damit ziehen wir auch einen Schlussstrich unter unseren Verlag, den wir zum Juli zugemacht haben.

Ich bin ja noch nicht tot, ich will noch was. Ich bin 69, meine Frau Marie-Luise Flammersfeld 61 – ein junges Mädchen. Ich bin unersättlich, sagt sie. Aber ich kann doch nicht einfach eine Angel kaufen, ich hab schon Angst, einen Fisch dann auch nur in die Hand zu nehmen oder totzuschlagen! Ich muss was tun, was in mir ist. Das kann ich in Berlin. Bücher sind schon lange meine Leidenschaft, jetzt habe ich dazu die zeitgenössische Musik entdeckt – ich will eine Dante-Oper produzieren.

Gestern Abend waren wir hier in Zürich bei der Premiere eines Theaterstücks, das ein Freund von uns inszeniert hat, ein Stück von Picasso, das hat er wunderschön gemacht. Da waren all die alten Freunde und Bekannten, und ich dachte: Neinneinneinnnein, die sind auf der letzten Meile. Ich spurte noch auf der vorletzten weg. Bei so einem Abend wie gestern überfällt mich Melancholie.

Wir haben schon seit fünf Jahren eine Wohnung in der Fasanenstraße, viele Übersetzer und Autoren unseres Verlags leben in Berlin. Und immer im Hotel –- da kann man nicht richtig arbeiten. Von der Wohnung aus suchen wir was Größeres, meine Frau möchte auch was Grünes haben. Ich habe eine Bibliothek von 20 000 Büchern, die muss ich um mich haben. Ich sage immer, meine Frau ärgert das: Jetzt gehen wir in die Fasanenstraße, dann suchen wir die bleibende Wohnung – und dahinter ist gleich der Friedhof. Es ist doch so. Ich will nicht noch mal mit 20 000 Büchern umziehen.

Wir haben je ein Fahrrad, damit fahren wir überallhin, nach Mitte, Prenzlauer Berg. Ich hoffe, dass wir Ausflüge machen können in die Umgebung, denn die liebe ich auch, die ist wunderschön und anregend. In Lesungen werde ich nicht oft gehen, ich bin Leser. Ich lese Texte lieber zu Hause, allein. Aber ich bin neugierig auf Menschen, gehe gerne in Gasthäuser. Und in Buchhandlungen – ein Buch zu kaufen, das ist was Schönes. Morgens setze ich mich mit der Zeitung ins Café, wir haben einige Stammlokale, das Manzini, die Paris-Bar, einen Pizzabäcker an der Kantstraße.

Irgendwelche Andenken werde ich nicht mitnehmen, höchstens einen Weißwein vom Zürichsee, das ist ein wunderbarer Aperitiv, ich glaube nicht, dass man den in Deutschland kriegt. Ich habe noch ein Kistchen, den trinken wir dann bei besonderen Gelegenheiten. Aber sonst nehmen wir von hier nichts mit, außer uns selbst und den Büchern.

Gisela Moder, 63

Eine gute alte Freundin von mir, die in den 70er Jahren nach Berlin gegangen ist, hat immer gesagt: Wenn du in Rente gehst, kommst du nach Berlin! Da habe ich noch nicht ernsthaft daran gedacht. Aber ich wusste, in Horst zu bleiben, ist Quatsch, da geh ich ein wie ein Primelpöttchen. 22 Jahre habe ich auf dem Dorf gelebt, in der Nähe von Eimsbüttel. Die schleswig-holsteinische Bauerngesellschaft ist nicht sehr offen. Durch die fünf Kinder kannte ich zwar viele, aber alleine wird man nicht eingeladen. Da war ich außen vor, weil ich auch nicht zur Kirche gehe, nicht zur Feuerwehr gehöre. Mit 60 bin ich in Rente gegangen, ich habe in der EDV gearbeitet. Die Kinder waren aus dem Haus, da hab ich überlegt: Wo kenne ich die meisten Leute? Und das war Berlin. Für mich war die Stadt immer positiv besetzt, da kam ich aus dem Alltag raus, konnte auch mit allen Kindern meine Freundin besuchen, die wohnte in einer tollen Hausgemeinschaft mit Hof und Sandkiste.

Ich habe bei Immoscout geguckt, dann bin ich durch die Gegenden gelaufen und hab geguckt: Könnte ich mich hier wohlfühlen? Ich komm ja vom Land! Ich hab mal bei einer Freundin in Wilmersdorf auf dem Balkon gesessen, dieses stetige Autorauschen, da hab ich gesagt: Nee! Hier will ich nicht wohnen, ich möchte auch ein paar Vögel zwitschern hören. Ich habe ein Leben lang Garten gehabt, deswegen brauchte ich einen Balkon. Den habe ich jetzt hier im Westend, zehn Quadratmeter, auf dem kann man auch mit mehreren Leuten sitzen. Hier sind überall Bäume, da sieht man die anderen Häuser kaum. Das ist dann auch nahtlos ineinander übergegangen: Hausübergabe in Horst am 1. Juli 2008, Einzug hier am 1. Juli 2008.

In Berlin setze ich mich in die U2 und fahr ins Kino, das ist so leicht. Ich habe nette Nachbarn, zweimal die Woche bin ich im Sportmedizinischen Zentrum. Mein Sohn Olaf lebt schon länger hier mit seiner Frau, jetzt haben sie auch ein Baby, das ist oft bei mir. Inzwischen wohnt auch mein Sohn Niels in Berlin. Im ersten Sommer habe ich das Radfahren entdeckt, das wusste ich gar nicht, dass man das hier so gut kann. Und im ersten Winter hab ich mir lange Unterhosen angeschafft. Ich dachte, die Kälte geht einem ja durch und durch! Jetzt hab ich ganz viele handgestrickte Wollsocken.

Was ich besonders schön finde, das ist das Literarische Colloquium. Und der Teufelssee, da bin ich im Sommer oft schnell zum Schwimmen gefahren, das ist erfrischender als eine kalte Dusche. Was mir schon zu schaffen macht: wenn ich zu viel angebettelt werde. Einmal hat mir einer 50 Euro aus dem Portemonnaie geklaut. Schenken würde ich die ja jemandem, aber nicht einfach so rausklauen, das finde ich nicht gut.

Im vorigen Jahr bin ich zwei Wochen nach Frankreich in die Ferien gefahren, aber ich bin noch nicht so lange in Berlin, dass es mich wegzieht. Das ist für mich eine richtige Überwindung: Muss ich da jetzt hin? Außer der schönen Luft und dem weiten Himmel vermisse ich doch nichts.

Christoph Müller, 72

Das war klar, dass ich mit 65 von Tübingen herziehe, für mich kam nur Berlin infrage. München kann ich nicht ausstehen, das ist Folklorekatholizismus, nix für mich. Da geh ich gerne in eine Ausstellung, ins Theater, aber dann wieder heim. Frankfurt geht gar nicht, wer zieht freiwillig nach Frankfurt. Und Hamburg? Ist nicht.

Um es klar zu sagen: Ich wäre um keinen Preis der Welt in den Westteil gezogen. Da habe ich ja schon mal gewohnt, in den 60ern war ich Redakteur beim Tagesspiegel, zuständig für Ost-Berlin, als Wessi durfte ich ja rüber. Und dann, 1968, musste ich nach Tübingen zurück.

Also, ich wollte in den Osten. Wobei ich nicht einfach gesagt habe: Ost-Berlin, nein, ich bin da ganz minutiös vorgegangen. Ich wollte einen Ort, der genau im Schnittpunkt lag zwischen Staatsoper, Komischer Oper, Deutschem Theater, Berliner Ensemble und Museumsinsel. Da bin ich mindestens drei Mal die Woche. Warum ich nach Berlin gekommen bin? Es gibt nur einen Grund: Kultur. (Und wehe, die streichen auch nur noch ein Symphonieorchester!) Jetzt habe ich ja Zeit. Wer kann schon mitten am Tag ins Pergamonmuseum? Das kann nur ich. Da kenne ich fast jede Römerstatue. Bis zur Philharmonie sind’s auch nur drei U-Bahn-Stationen. Seit diesem Jahr habe ich ein Abonnement dort: Block E, Sitz 6 und 7, Reihe 3. Jetzt habe ich Staatskapelle (ich bin Barenboim-Fan) und Philharmonie, was will ich mehr!

Und dann das Umland, das ist meine große Freude! Ich sammle ja nicht zufällig niederländische Malerei: Die Niederlande sind flach, und ich liebe flach. In meiner Kindheit sind wir immer nach Norderney in die Ferien gefahren. Nach Holland muss ich nicht mehr, da kenne ich jede Stadt, jedes Museum. Jetzt entdecke ich Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Mein Auto habe ich abgeschafft, ich habe eine Bahncard 100, bin immer mit dem Zug unterwegs. Manchmal geh ich morgens auf den Bahnhof und gucke: Jetzt ist es elf, ach, Cottbus war ich ja erst letzte Woche – aber Senftenberg, wo ist denn das? Da fahr ich mal hin. Wirklich: Ich setz mich in den Zug, ohne zu wissen, wohin, und steig aus, wo es mir gefällt. Und ich liebe die Backsteingotik, die ist mir lieber als die richtige Gotik – Stralsund, Wismar, Greifswald.

Im Sommer fahre ich jeden Morgen mit dem Neun-Uhr-Zug zum Wandlitzsee, da ist es traumhaft schön: Riesenbäume drum herum, und dann die Fische und die Vögel. In 40 Minuten bin ich da – in der Zeit komm ich im Schwabenland nicht mal von Tübingen nach Stuttgart. Für das Bad habe ich eine Dauerkarte, der Bademeister begrüßt mich mit Namen. Ich bin schon durch den ganzen See geschwommen, das hat Honecker bestimmt nie gemacht. Und ich hau immer ab, wenn es voll wird.

1968 hat mich mein Vater nach Tübingen gerufen, ihm gehörte die Hälfte des „Schwäbischen Tagblatts“, und damals war die Zeitung in Not. Ich wollte nicht, war gerade frisch verliebt in Axel, Axel Manthey, der als Bühnenbildner und Regisseur am Anfang seiner großen Karriere stand. Seit er vor 15 Jahren an Aids gestorben ist, bin ich allein und werde es auch bleiben, logischerweise. Hat man auf mehr Anspruch als 32 Jahre mit einem Partner? Und wenn es dann so einer ist. Also, ich musste zurück. Mein Vater hat gesagt, du musst die Zeitung übernehmen! Die war nämlich rechtsliberal. Und das 68. Da war ich der Messias. Allerdings: An meinem ersten Arbeitstag als Chefredakteur und Verleger des „Schwäbischen Tagblatts“, am 2. Mai 1969, kam ein Päckchen, das hab ich freudig aufgemacht, da drin war ein Strick und dazu anonym gekritzelt: Häng dich auf, du schwule Sau! Das war die Begrüßung. Nicht so schön. Deswegen bin ich als junger Mann begeistert nach Berlin.

Bei meiner Abschiedsfeier zum 65. kam per Fax ein geheimnisvoller Begrüßungsbrief von Wowereit. Ich habe gesagt: ein guter Scherz. Er war aber echt. Ein früherer Volontär von uns hat beim Senat in Berlin gearbeitet. Der Brief gab den Anstoß, damals ging das ja los: Reiche Altchen aus der Republik, her nach Berlin! Jetzt kommen auch immer mehr, aber ich war ein Pionier. Wir sind die idealen Leute für Berlin: Wir geben unser Geld hier aus. Ich spende viel, bin im Schinkel-Verein und in der Kleist-Gesellschaft, im Caspar-David-Friedrich-Verein, im Verein der Elisabethkirche, in der Graphischen Gesellschaft und im Förderverein der Ernst-Busch-Schule. Und ich habe meinen Tribut geleistet mit meiner Stiftung fürs Kupferstichkabinett.

Außerdem gehe ich viel aus. Ich habe zwar eine Küche, aber ich habe hier noch nicht mal Spaghetti gekocht. Ich hab so ein Dutzend Stammlokale in der Gegend, eins habe ich auch selber vorfinanziert, das Themroc. Allerdings: Im Papa Pane, meinem Lieblingsitaliener an der Ackerstraße, bin ich jedes Mal der Älteste. Da werde ich manchmal ein bisschen melancholisch.

Mein Haus in Tübingen, mein Elternhaus, habe ich vor drei Jahren verkauft, damit habe ich mich schwergetan. Anfangs bin ich noch hin- und hergefahren. Im Sommer war es da sehr schön. Aber dann wurde es immer lästiger: Ja, Herr Müller, mir dachte doch, Sie läbe in Berlin! Was machet Se denn hier? Ich musste mich laufend rechtfertigen.

Hier oben unterm Dach habe ich meine Ruhe. Ich lese viel, vier Stunden am Stück – was soll ich in dieser Jahreszeit draußen rumlaufen. Ich lese immer mindestens zehn Bücher gleichzeitig.

Was ich nicht leiden kann an Berlin, das ist Silvester. Hier am Koppenplatz ist Radau, das sieht aus wie ein Schlachtfeld, und dann braucht es zwei Monate, bis die Stadtreinigung sich bequemt, sauber zu machen, das hasse ich. Ich bin Schwabe. Einmal bin ich deswegen über Silvester nach Rügen geflohen, aber das war so spießig, ich bin wieder zurück.

Ich leide darunter, wie sich die Linienstraße verändert. Da gehen Sie sechs Wochen weg und kommen wieder – und wo ist mein Bäcker?! Das wechselt ständig und wird immer teurer, hier ist Boomtown.

Eine echte Tragödie, das sind für mich die Dahlemer Museen. Unter der Woche bin ich da manchmal der einzige Besucher, die machen das Licht an für mich! Die müssen nach Mitte kommen. Aber bitte ohne Schloss. Das will ich noch erleben: wie das Schloss NICHT gebaut wird. Da bin ich zu jeder Schandtat bereit.

Im Berghain war ich übrigens auch schon mal, zum Theater. So einen Club brauche ich selbst nicht, aber das ist doch wunderbar, dass es so was gibt. Ich bin stolz auf Berlin.

Ingrid Elfert, 71

Für mich stand eigentlich fest, dass ich in der Heide begraben werde. Da haben wir gelebt, in der Lüneburger Heide, 35 Jahre lang hatte ich da eine Apotheke. Ich dachte: Nach so langer Zeit … Aber mein Mann, ein gebürtiger Berliner, hat gesagt, er kann sich nicht vorstellen, auf dem Dorf alt zu werden und nur noch zum Rot-Kreuz-Nachmittag zu gehen. Nach der Wende sind wir immer häufiger hier hergefahren, da war so eine Aufbruchstimmung, und vor fünf Jahren – ich habe mich lange gesperrt, mir war das ein zu großer Sprung, man fängt ja in jeder Hinsicht ein ganz neues Leben an – sind wir nach Friedenau gezogen. Wir haben die Wohnung auch danach ausgesucht, dass alles um die Ecke ist, was man unbedingt braucht, um zu überleben, selbst ohne Auto. Ich hab zwar noch eins, früher bin ich überall hingefahren, aber nicht in Berlin. Ich fürchte mich vor den Radfahrern. Die sind so wahnsinnig aggressiv, übertreten alle Regeln. Ich bin eher ein ängstlicher Typ, da ist man immer im Nachteil. Ich möchte nicht auf meine letzten Tage mit einem Radfahrer kollidieren.

Was mich immer wieder erstaunt: dass man in ganz verschiedenen Welten auftaucht, je nachdem, wo man aus der U- oder S-Bahn aussteigt. Am Kottbusser Tor dachte ich zuerst, ich bin irgendwo im Orient. Diese Vielfalt! Das hat meinen Gesichtskreis sehr erweitert. An der Volkshochschule lerne ich Italienisch und an der FU höre ich Alte Geschichte, dann fahren wir nach Italien und sehen uns die alten Ruinen an, das passt. Mit ein paar Damen spiele ich jetzt einmal im Monat Karten, das habe ich noch nie gemacht. Wir besuchen viele Museen, mein Mann ist Künstler. Das Bodemuseum mag ich besonders, die Räume sind so schön, da ist so eine Ruhe. Wir gehen nie am Wochenende, da sind ja die ganzen grässlichen Touristen da. Wenn ein neues Buch rauskommt, gehen wir einfach zu Dussmann, und bei uns am Cosimaplatz gibt’s so ein kleines Kino, da kommen die besten Filme hin.

So viel wie jetzt habe ich im ganzen Leben noch nicht gekocht – ich habe ja immer gearbeitet. Wir gehen nicht oft aus. Gut, im Sommer mal in ein Gartenlokal. Aber ich wundere mich immer, wie man das schön finden kann, jetzt in dieser Zeit auf der Straße im regnerischen Wetter zu sitzen und Kaffee zu trinken.

Wenn Sie eine Apotheke auf dem Dorf haben, wo jeder jeden kennt, da müssen Sie Ihr Mienenspiel immer kontrollieren, jeden freundlich grüßen. In Berlin ist es schön anonym, da kann ich mir einen verrückten Hut aufsetzen, kann machen, was ich will. Ich fühle mich hier frei.

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