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Am Dienstag eröffnete die Arche mit Hüpfburgen und Live-Musik ihr neues Gebäude in Reinickendorf. Die neunjährige Lara (vorne links) wird wie bisher jeden Tag kommen. „Hier kann ich spielen, Hausaufgaben machen und mit den Betreuern toben“, sagt sie. Und freut sich wie die anderen Kinder auf ihr neues Domizil, das die alte, abrissreife Arche ersetzt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Bildungschancen: Damit arme Kinder nicht abrutschen

Eine Studie der Arbeiterwohlfahrt legt den Schluss nahe, dass arme Kinder mit Migrationshintergrund etwas bessere Bildungschancen als arme Kinder deutscher Herkunft haben. Mit individueller Förderung könnten Nachteile ausgeglichen werden, sagen Experten.

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Armut ist der größte Risikofaktor für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die materielle Situation der Familien spielt offenbar eine größere Rolle für den Bildungserfolg von Schülern als die Herkunft. Diesen Schluss legt eine Untersuchung der Arbeiterwohlfahrt nahe, die am Dienstag vorgestellt wurde.

Für die Langzeitstudie „Lebenslagen von (armen) Kindern und Jugendlichen und gesellschaftliches Handeln bis zum Ende der Sekundarstufe I“ wurden Kinder aus dem ganzen Bundesgebiet fünfzehn Jahre lang vom Vorschulalter an begleitet. Die Befragungen ergaben, dass arme Kinder mit Migrationshintergrund bessere Bildungschancen als arme Kinder aus ethnisch deutschen Familien haben. Sie bekommen öfter eine Gymnasialempfehlung (22 Prozent) als arme deutsche Kinder (13 Prozent), jedoch weit seltener als nicht-arme Kinder (49 Prozent). Zudem ist das persönliche Wohlergehen bei Kindern aus Migrantenfamilien der Studie zufolge höher. Sie sind subjektiv zufriedener, rauchen und trinken seltener, können öfter Urlaub machen und leben häufiger mit beiden leiblichen Eltern zusammen als arme Kinder deutscher Herkunft. Allerdings ist die Datenbasis relativ klein. Nur 319 Kinder konnten über die gesamte Dauer der Studie erreicht werden, insgesamt nahmen 900 Kinder teil. 30 Prozent der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen hatten einen Migrationshintergrund, davon waren 44 Prozent türkischer Herkunft und 34 Prozent Aussiedler. Alle befragten Kinder besuchten zum Zeitpunkt der ersten Erhebung 1999 Kindertagesstätten der Arbeiterwohlfahrt.

In Berlin ist die Kinderarmut besonders hoch (hier finden Sie Daten und Fakten zur Situation in Berlin), jedoch liegen hier keine Zahlen vor, mit denen der Bildungserfolg von armen Kindern mit Migrationshintergrund mit denen deutscher Herkunft verglichen werden könnte. Experten äußern sich deshalb nur sehr vorsichtig zu einer Übertragbarkeit der bundesweit erhobenen Daten auf die Hauptstadt. „Es deckt sich teilweise mit unseren Erfahrungen“, sagt Uwe Kamp vom Deutschen Kinderhilfswerk. „Es kommt nicht auf die Herkunft an, sondern auf den sozialen Status der Eltern und den Bildungshintergrund".

Kamp weist aber darauf hin, dass es weder möglich noch sinnvoll sei, von „den Migranten“ zu sprechen. Es komme immer darauf an, unter welchen Voraussetzungen die Eltern nach Deutschland gekommen sind, wie die Situation im Herkunftsland war, und ob die Eltern selbst eine Schulbildung genossen haben. Die Haltung, dass es den eigenen Kindern besser gehen solle, sei seiner Erfahrung nach bei den weitaus meisten armen Eltern, egal welcher Herkunft, verbreitet.

Bernd Siggelkow, Gründer des Jugendhilfswerks „Die Arche“ bezweifelt, dass Jugendliche aus armen Migrationsfamilien prozentual öfter Abitur machen als Jugendliche aus armen deutschstämmigen Familien. „50 Prozent der Kinder mit Migrationhintergrund in Kreuzberg schaffen nicht einmal den Hauptschulabschluss“, so Siggelkow. Allerdings teilt er die Beobachtung, dass Kinder aus Migrationsfamilien oft einen besseren Rückhalt in der Familie haben und die Familienstrukturen intakter sind. „Selbst wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund keinen Schulabschluss schaffen, werden sie oft von der Familie aufgefangen. Dann können sie zum Beispiel im Geschäft des Onkels anfangen zu arbeiten.“ Arme Kinder mit deutscher Herkunft leben oft mit alleinerziehenden Eltern, so Siggelkow. Daher fehle es bei ihnen häufiger an den entsprechenden Familienbanden.

Für Siggelkow ist aber ein anderer Punkt wichtiger: „Die Bildung muss in Deutschland viel individueller erfolgen. Es kann nicht sein, dass sich die Kinder dem Bildungssystem anpassen müssen, sondern das Bildungssystem muss sich den Kindern anpassen.“ Als positives Beispiel führt er das Bildungssystem in Finnland an. „Dort werden Kinder behandelt wie Könige. Es gibt kleinere Klassen, die Kinder bekommen kostenlosen individuellen Nachhilfeunterricht und auch das Schulessen ist umsonst.“

Gerade hat Siggelkow in Reinickendorf ein neues Arche-Gebäude eröffnet. In der Einrichtung bekommen Kinder kostenloses Essen und Nachhilfeunterricht. Die Arche-Stiftung hat das Haus in Reinickendorf gekauft und mit Hilfe von Spenden saniert.

Zwar spiele Herkunft und familiäre Situation von Kindern aus armen Verhältnissen eine Rolle, doch entscheidend für die Zukunft dieser Kinder sei letztlich ihre Bildung, sagt Siggelkow: „Wenn Politiker Kinder wenigstens als Wirtschaftsfaktoren betrachten würden, dann wären sie vielleicht bereit, mehr Geld für die Bildung in die Hand zu nehmen.“

Video: Bernd Siggelkow, Gründer der "Arche", und Journalist Wolfgang Büscher und ihr neues Buch zum Thema Kinderarmut und Bildungsdefizite, "Deutschlands verlorene Kinder".

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