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Diskussion mit Schülern, die Russisch lernen, im Hermann-Ehlers-Gymnasium in Steglitz-Zehlendorf.

© Linda Klingenberg

Der Ukraine-Konflikt in Steglitz-Zehlendorf: Putin im Klassenzimmer

Der Jugendaustausch muss politischer werden, findet der Grüne Oliver Schrouffeneger und hat den ukrainischen Lyriker Yuriy Zaplin aus Charkow nach Steglitz-Zehlendorf eingeladen. Der Zehlendorf Blog war dabei, als er mit Schülern diskutierte, die als Fremdsprache Russisch lernen.

Der Protest beginnt mit seinem T-Shirt. Nur ein Wort steht in weißen Buchstaben auf brauner Baumwolle: „Nevertheless“ – trotzdem. Trotz Demonstrationen und Unruhen in seiner Stadt hatte Yuriy Zaplin aus Charkow im Osten der Ukraine Anfang März einen öffentlichen Brief geschrieben und ihn anschließend im Internet veröffentlicht; einen Brief, in dem er sich zusammen mit anderen russischsprachigen Schriftstellern für die Einheit der Ukraine aussprach und gegen den Einmarsch des russischen Militärs protestierte.

Wegen dieses Briefes ist Yuriy Zaplin jetzt in Berlin. Zum ersten Mal in seinem Leben ist der 42-Jährige ukrainische Lyriker in Westeuropa. Gerne wäre er schon früher hergekommen, doch die schwierige langwierige Prozedur, ein Visum zu bekommen, hielt ihn davon ab. „Wenn man als Ukrainer in den Westen reisen will, braucht man einen Haufen Papiere. Es dauert Wochen, bis man die alle zusammen hat“, erzählt er. Zaplin war schon in der Türkei und in Montenegro, nur in den Westen zu reisen erschien ihm bisher „zu kompliziert“. Bisher.

Mitte April erhielt Zaplin eine Einladung vom Berliner Abgeordneten Oliver Schruoeffeneger, der für die Grünen im Abgeordnetenhaus sitzt und zudem im Bezirk Steglitz-Zehlendorf als Referent für Jugend, Gesundheit, Umwelt und Tiefbau tätig ist, nach Berlin zu kommen, um über die aktuelle Situation in seiner Heimatstadt vor Schülern, Bürgern und Politikern zu berichten. Schruoeffeneger war durch den Kurznachrichtendienst Twitter auf Zaplins Protestbrief aufmerksam geworden.

Drei Monate nach der Einladung des Grünen-Politikers sitzt Zaplin in seinem „Nevertheless“-T-Shirt in einem Klassenzimmer im Hermann-Ehlers-Gymnasium in Steglitz. Hinter ihm hängt eine Osteuropa-Karte an der Wand, vor ihm sitzen rund zwanzig Schülerinnen und Schüler, die alle das Fach Russisch als Grund- oder Leistungskurs gewählt haben.

„Ist ja fast wie zu Hause hier“, freut sich Zaplin und liest in seiner Muttersprache einen Auszug aus dem Brief vor, der ihn nach Berlin brachte: „Wir, russische Schriftsteller Charkows, sind ukrainische Bürger, und wir brauchen keinen militärischen Schutz aus einem anderen Staat. Wir wollen nicht, dass Truppen eines anderen Staates in unsere Stadt und unser Land einrücken und das Leben unserer Familien und unserer Freunde gefährden.“

Yuriy Zaplin aus Charkow im Osten der Ukraine.
Yuriy Zaplin aus Charkow im Osten der Ukraine. Anfang März hat er einen öffentlichen Brief geschrieben und ihn anschließend im Internet veröffentlicht, um sich mit anderen Schriftstellern für die Einheit der Ukraine zu engagieren.

© Linda Klingenberg

Die Schriftsteller beziehen sich auf die Situation Anfang März, als Russlands Präsident Wladimir Putin im Parlament die Entsendung von Truppen in die Ukraine beantragt hatte. Als Grund hatte der Staatschef die „außergewöhnliche Lage“ in der Ukraine genannt, die eine „Bedrohung“ für die dort lebenden russischen Staatsbürger darstelle.

Sofort wird es laut unter den Schülern. Der 14-jährige Samuel, dessen Onkel und Cousins im Osten der Ukraine leben, meldet sich und fragt empört, ob Zaplin etwa der Meinung wäre, dass es ohne das Einschreiten Russlands keine Auseinandersetzungen und bürgerkriegsähnliche Zustände in der Ukraine geben würde. „Das kann ich nicht garantieren, aber ja, ich denke, dass es ohne Russland gar nicht erst so weit gekommen wäre“, antwortet Zaplin zögernd. „Natürlich hat die ukrainische Regierung Fehler gemacht, aber Russland schürt durch seine Propaganda die Konflikte unnötig weiter“.

Viel Diskussionsstoff, da kann ein Blick auf die Landkarte nur hilfreich sein...
Viel Diskussionsstoff, da kann ein Blick auf die Landkarte nur hilfreich sein...

© Linda Klingenberg

Dieser Ansicht ist auch Viola von Cramon, die als Wahlbeobachterin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bis vor kurzem in der Ukraine war und ebenfalls mit den Schülern des Hermann-Ehlers-Gymnasiums spricht. Die Grünen-Politikerin erzählt von Freunden aus der Ukraine, deren russische Familienangehörige aus Angst vor Rechtsextremen nicht mehr zu Besuch in die Ukraine kämen. „Das ist absolutes Brainwashing, was Putin betreibt“, sagt von Cramon. „Ich habe Deutschland im russischen Fernsehen kaum wieder erkannt, da wird jeder zweite als schwul dargestellt. Putin hat Angst, dass so was wie der Maidan auch in Moskau entsteht. Deswegen versucht er, alles, was ihm gefährlich werden könnte, auszuschalten.“

Neben ihrer Arbeit als Wahlbeobachterin in Charkow, der zweitgrößten Stadt der Ukraine aus der auch Yuriy Zaplin kommt, war von Cramon selbst auf dem Maidan in Kiew. Sie erzählt begeistert von der Selbstverwaltung und Organisation der Protestanten und wie unerwartet groß das Engagement der Zivilbevölkerung sei. Von radikalen Nationalisten auf dem Platz erzählt sie nichts.

Ist die Angst vor den Rechten berechtigt?

Das ärgert Sonja, eine Schülerin, deren Familie aus Kiew kommt. Die 19-Jährige fährt jedes Jahr in den Ferien in die Ukraine und besucht dort ihre Großmutter. Die habe ihr auch erzählt, dass die Protestanten auf dem Maidan Geld für die Demonstrationen bekämen. „Der Maidan ist überhaupt nicht so selbst organisiert, wie das in den Medien aussieht“, empört sie sich. „Die Ukraine braucht Hilfe und zwar von Russland. Früher waren Ukrainer und Russen wie Brüder und Schwestern, jetzt bekämpfen sie sich. Man muss auf der Straße teilweise schon Angst haben, als Ukrainer Russisch zu sprechen wegen der ganzen ukrainischen Rechtsradikalen. Das hat sich alles in eine ganz falsche Richtung entwickelt.“

Ob die Angst vor Rechtsradikalen nun berechtigt oder das bloße Ergebnis russischer Propaganda ist, der Großteil der Schülerinnen und Schüler spricht sich für eine Annäherung der Ukraine zu Russland aus – und widerspricht damit Yuriy Zaplin, der sagt: „Ich möchte gerne in Frieden leben in einer großen einheitlichen Ukraine“. Bei einer Abspaltung des Ostens, wie Separatisten sie fordern, würde auch Charkow, das nur 200 Kilometer von Donezk entfernt liegt, dazugehören.

Auch für Jugendliche aus Steglitz-Zehlendorf, die alle zwei Jahre zu einem Jugendaustausch nach Charkow fahren, würde sich dann einiges ändern. Seit 24 Jahren besteht die Partnerschaft zwischen dem Bezirk Ordshonikidse in Charkow und Steglitz-Zehlendorf. Erst im Juni war eine Gruppe ukrainischer Jugendlicher in Berlin. Bisher war der Jugendaustausch die einzige Verständigung zwischen Charkow und Steglitz-Zehlendorf und es konnte jeder mitfahren, der Lust hatte, doch das soll sich in Zukunft ändern.

Viola von Cramon, Grünen-Politikerin im Bundestag, war als Wahlbeobachterin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bis vor kurzem noch in der Ukraine.
Viola von Cramon, Grünen-Politikerin im Bundestag, war als Wahlbeobachterin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bis vor kurzem noch in der Ukraine.

© Linda Klingenberg

„Der Jugendaustausch muss politischer werden“, sagt Oliver Schruoeffeneger. Dazu will er einen Wettbewerb ins Leben rufen, bei dem Jugendliche erst ihre Meinungen und Erfahrungen zur Ukraine schildern sollen, bevor sie mitfahren dürfen. Außerdem soll es einen regeren Austausch zwischen der Charkower und der Zehlendorfer Künstlerszene geben. Schruoeffeneger und Zaplin können sich einen gemeinsamen Geschichts- und Gedichtsband oder eine Kunstausstellung vorstellen.

Bevor Zaplin sich von den Schülern verabschiedet, äußert er noch einen Wunsch: „Ich hoffe, dass in Zukunft mehr Berliner in die Ukraine fahren und mehr Steglitz-Zehlendorfer nach Charkow. Dann werdet ihr schönere Sachen sehen können, als ihr jetzt hört“, sagt er.

Die Autorin schreibt als freie Mitarbeiterin für den Tagesspiegel, sie ist in Zehlendorf aufgewachsen. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten.

Nora Tschepe-Wiesinger

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