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Musik ist die beste Zerstreuungsmöglichkeit in dieser Turnhalle - stundenlang summt Alzeen seine Lieblingslieder vor sich her.

© Thilo Rückeis

Update

Alltag eines syrischen Flüchtlings in Berlin: Die Welt ist eine Turnhalle

Zweieinhalb Jahre war er auf der Flucht – Ägypten, Griechenland, Serbien, Albanien, Ungarn. Dann schaffte es der Syrer Muhammad Alzeen mit seinem Bruder nach Berlin. Sein Leben besteht nun aus Warten. Eine Reportage und eine Anmerkung zur aktuellen Situation.

ANMERKUNG zur Aktuellen Situation von Muhammad Alzeen, Stand Anfang April 2015: Am 24. März nach genau drei Monaten in der Turnhalle hatten Muhammad Alzeen und sein Bruder einen Termin beim Lageso (Landesamt für Gesundheit und Soziales). Eigentlich sollten sie an diesem Tag in eine andere permanente Flüchtlingsunterkunft verwiesen werden, doch sie wurden zurück in die Halle geschickt mit der Begründung, dass zur Zeit in ganz Berlin kein Platz in einem solchem Flüchtlingsheim frei sei. Daraufhin bot eine Frau aus der Kirchengemeinde Dahlem, die Muhammad dort täglich ehrenamtlich Deutsch beibringt, ihm und seinem Bruder an, die nächsten Wochen bei ihr mit im Haus zu wohnen. Seit dem 30. März ist Muhammads Welt nun keine Turnhalle mehr, sondern ein ausgebauter Dachboden mit einem Bücherregal, einem Schreibtisch und Bildern an der Wand. Trotzdem besteht sein Leben weiterhin aus Warten, denn ob und wann sein Asylantrag bewilligt wird, weiß er immer noch nicht. "Es könnte morgen, in einer Woche oder aber auch erst in drei Monaten passieren", sagt er, geduldet sich und hofft weiter."

Im Folgenden beginnt die Reportage vom März 2015...

Nummer 28 sagt, er lebe am schönsten Ort der Welt. Das ist für ihn ein Bett unter einem Basketballkorb: weißes Gestell, weiße Laken, am Fußende ein Handtuch, noch nass vom Duschen, daneben eine Plastikkarte mit seiner Zahl. Muhammad Alzeen ist Nummer 28 von 200 Menschen hier, 24 Jahre alt, seit zweieinhalb Jahren auf der Flucht aus Damaskus, Syrien, seiner Heimat.
Der schönste Ort der Welt ist eine Turnhalle in Berlin-Dahlem, 1200 Quadratmeter groß. Tausende Kilometer ist Muhammad Alzeen geflüchtet, erst Kairo, dann Istanbul, Griechenland, Serbien, Albanien, Ungarn. Sein Leben stand auf dem Spiel. Nun ist er in Sicherheit – deshalb, angesichts seiner Odyssee, erscheint ihm dieser Ort so prächtig. Sein Leben, das ist nun diese Halle in Steglitz-Zehlendorf.
Er sagt leise, den Kopf gesenkt: „Es ist nicht leicht, ein Flüchtling zu sein.“
Die Hälfte der 23 Millionen Syrer ist auf der Flucht. Fast vier Millionen haben sich in die Nachbarländer Libanon, Türkei, Irak und Jordanien gerettet. Zehntausende leben in Ägypten. Und Muhammad Alzeen ist einer von rund 2500 Syrern, die es nach Berlin geschafft haben.

Sein Bett steht direkt neben der Zuschauertribüne, von der aus das Publikum sonst Fußballer oder Basketballer anfeuert. Jetzt sitzt dieser stille, schmächtige und sehr nachdenkliche Mann, gebildet, mit schwarzem Haar und Pferdeschwanz, jeden Tag hier und feuert sich selbst an. Jeder Tag in der Turnhalle ist gleich – gleich lang und gleich eintönig. Nur die Essensausgaben strukturieren seinen Tagesablauf. Frühstück zwischen 8 und 10 Uhr im hinteren Teil der Halle, wo Bierbänke und Tische stehen; gegessen wird von weißen Plastiktellern. Muhammad Alzeen will Deutsch lernen, sein Studium beenden, das er wegen des Bürgerkriegs in seinem Land abbrechen musste, einen Job finden. Das sind seine Hallenträume. Von der obersten Sitzbank der Tribüne hat Alzeen einen guten Blick über sein momentanes Zuhause: Bett steht neben Bett, Schicksal reiht sich an Schicksal, Privatsphäre oder Rückzugsmöglichkeiten gibt es nicht. Neben Alzeen schläft sein zwei Jahre jüngerer Bruder Ahmed, daneben Abdullah, Hoger, Ehmed – junge syrische Männer, die aus ihrem Land geflohen sind. Ihre Betten haben sie zusammengeschoben, so dass sie ein Viereck bilden, und haben sich damit einen kleinen, eigenen Raum geschaffen. „Das Wohnzimmer“, sagt Muhammad.

Seit Weihnachten, exakt seit dem 24. Dezember 2014, ist die Turnhalle Muhammad Alzeens Welt. Er sagt: „Vor vier Jahren war mein Leben noch normal, ich habe englische Literatur studiert, nebenbei in einem Laden gearbeitet und hatte mein eigenes Zimmer. Auf einmal lebe ich in einer Sporthalle und habe – nichts mehr.“ Außer der Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat Alzeen alles in Syrien und auf der Flucht zurückgelassen: seine Eltern, seine zwei jüngeren Schwestern, sein Fahrrad und seine Münzsammlung. Er führt jetzt ein Leben im Wartezustand: Warten auf die Bewilligung seines Asylantrags, auf die nächste Unterkunft, auf die nächste warme Mahlzeit. Es gibt andere, wie Alzeens Bruder Ahmed, die kommen weniger gut zurecht mit Warten und Hoffen. Ahmed Alzeen ist ausgebildeter Zahntechniker, er ist es gewohnt, mit den Händen zu arbeiten. „Ich werde verrückt, wenn ich den ganzen Tag in der Halle bleibe“, sagt er. „Wirklich, ich dreh’ durch.“ Alzeens Bett steht auf der rechten Seite der Turnhalle in der „syrischen Zone“. So nennt er die Betten mit den Nummern 26 bis 42, in denen ausschließlich Syrer schlafen. Mit den Menschen in den anderen „Zonen“ – den Serben, Albanern und Kosovaren im linken Teil der Halle und den Afghanen, Iranern, Pakistani in der Hallenmitte – hat er nicht viel zu tun. Jede Nation bleibt auf dem engen Raum unter sich. Vor allem die unterschiedlichen Sprachen trennen die Frauen, Männer und Kinder, die hier dicht an dicht leben.

Lesen Sie, warum der Syrer sein Land und seine Familie verließ

Außenansicht. Die Sporthalle der Freien Universität in Berlin-Dahlem im Bezirk Steglitz-Zehlendorf.
Außenansicht. Die Sporthalle der Freien Universität in Berlin-Dahlem im Bezirk Steglitz-Zehlendorf.

© Thilo Rückeis

„Jeder Einzelne hat so viel durchgemacht und versucht, mit seinem eigenen Schicksal klarzukommen“, sagt Alzeen. Es klingt entschuldigend. Ihm fehlt die Kraft, sich mit anderen über ihre Vergangenheit, ihre Flucht, ihre zurückgelassenen Familien zu unterhalten. Wenn, dann geht es um das Wetter, das Essen in der Halle, den schlechten W-Lan-Empfang – Nichtigkeiten, um nicht darüber sprechen zu müssen, warum sie hier sind. Warum? Das lässt sich kurz beantworten: Der Krieg. Und doch wieder nicht, denn den Abgrund, das Existenzielle an jeder Flüchtlingsgeschichte, die versteckte Angst, kann man nur erahnen. Muhammad Alzeen verlässt am 9.November 2012 seine Heimat, mit dem Flugzeug nach Ägypten. Vor dem Krieg, vor den Protesten gegen die Politik des syrischen Machthabers Baschar al Assad vor vier Jahren, führt Alzeen ein, wie er sagt, „normales“ Leben. Er ist glücklich, wohnt zusammen mit seinem Bruder Ahmed, zwei kleinen Schwestern und den Eltern in einer geräumigen Wohnung in Midan, einem der ältesten wohlhabenderen Stadtviertel von Damaskus. Dann kommt der 17. Juni 2011, ein Sommertag, an dem er zusammen mit Tausenden anderen Gläubigen nach dem Freitagsgebet vor der Al-Hassan-Moschee steht. An diesem Ort demonstrieren sie jeden Freitag für mehr Freiheit und Reformen in ihrem Land. Plötzlich stürmen 200 Polizisten die Moschee, zerstören die Fenster des Gotteshauses und schießen mit Tränengas auf die Betenden. Menschen werden wahllos verhaftet. Ein Mädchen ist die Einzige, die das Wort ergreift: „Ihr könnt die Leute doch nicht einsperren.“

Sie wird von den Polizisten zum Auto gezerrt – und Alzeen greift ein, obwohl er Angst hat und weiß, dass er riskiert, selbst festgenommen zu werden. Er bittet die Polizisten, das Mädchen freizulassen, sie beschuldigen ihn „für den Feind“ zu arbeiten, wollen ihn mitnehmen. Alzeen kann sie schließlich mühevoll davon überzeugen, dass er nur einer der Demonstranten ist und gleich um die Ecke wohnt. Das Mädchen und er kommen frei – ein Wunder. Aber nach diesem Vorfall weiß er, dass er Syrien verlassen muss. Ein zweites Wunder wird es nicht geben. „Zwei Brötchen bitte“, sagt Alzeen bei der Frühstücksausgabe, „mit Käse“. Keine Wurst. Er ist Moslem, wie die meisten hier. Seit ein paar Tagen wird das Essen extra halal, also nach muslimischem Glauben, zubereitet. An der Hallenwand neben den Tischen sind Trennwände aufgebaut und bilden so einen geschützten Raum. Hinter den Wänden kniet eine Frau mit Kopftuch auf einem Teppich. Sie betet das erste von fünf Gebeten am Tag mit dem Gesicht zur grauen Turnhallenwand – nach Mekka.

Per Skype kann er in sein altes Leben schauen

Während Alzeen das Essen von einem Sozialarbeiter der Arbeiterwohlfahrt (AWO), die die Notunterkunft betreibt, bekommt, liegt sein Bruder Ahmed wie viele andere noch im Bett, das Gesicht starr aufs Smartphone gerichtet, Kopfhörer in den Ohren. Mit dem Smartphone halten sie Kontakt zu ihrer Familie, die noch in Damaskus lebt. Wenn Alzeen mit seinen Eltern und Schwestern skypt, ist es wieder 2011 – eine Zeitreise. Alzeen kann dann für ein paar Minuten in sein altes Leben gucken, sieht sein altes Zimmer, in dem jetzt seine kleinste Schwester wohnt. Die Schwester sieht ihren Bruder, dem sie früher beim Basketballspielen zugeguckt hat, nun unter einem Basketballkorb sitzen. Vor seinem Bett fahren manchmal Kinder in ihrem Alter auf Rollschuhen durch die Turnhalle. Es ist oft sehr laut, die Geräusche reißen ihn heraus aus seiner schönen Erinnerung. Dann nervt diese Halle, dieser Ort, einfach nur.

Lesen Sie mehr darüber, wie der Tag in der Notunterkunft verläuft

Essensausgabe, die Brüder Alzeen aus Syrien.
Essensausgabe, die Brüder Alzeen aus Syrien.

© Thilo Rückeis

Muhammad Alzeen trägt Jeans und einen blauweiß gestreiften Pullover – Spenden von Dahlemern, die regelmäßig Kleidung vorbeibringen. Die Turnhalle der Freien Universität, in der er nun lebt, liegt zwischen Philologischer Fakultät und großen Villen, zwischen Bildung und Wohlstand. Beides musste er hinter sich lassen. Er hat in Kairo als Hilfskoch gearbeitet, in Istanbul als Assistent eines Schneiders, er hat in Griechenland unzählige Schlepper kennengelernt, ist daran gescheitert, mit einem falschen Pass nach Deutschland zu fliegen, ist mit dem Bruder zu Fuß über Serbien nach Albanien und dann nach Ungarn gelaufen – und dort dem Gefängnis nur knapp entronnen. Jetzt also Berlins grüner Stadtrand. Vor drei Monaten kamen die Brüder mit einer kleinen Reisetasche hier an. Darin eine Wechselhose, ein zweites T-Shirt – den Rest mussten sie auf der Flucht zurücklassen. Nach dem Frühstück holt Muhammad Alzeen ein Parfümfläschchen aus der Tasche; der Geruch von Lavendel vermischt sich mit dem von Schlaf und Schweiß. Ihm ist es unangenehm, sich in der Gemeinschaftsdusche vor den anderen Männern auszuziehen. Oft wartet er bis drei Uhr nachts, damit er die Duschräume für sich allein hat.

10 Uhr. Er verlässt zum ersten Mal an diesem Tag die Turnhalle. Im überdachten Eingangsbereich stehen junge Männer in Grüppchen zusammen und rauchen. Geredet wird wenig. Alzeen zieht sich die braune Wollmütze tiefer ins Gesicht und tritt hinaus. Der deutsche Winter macht ihm zu schaffen. Seit seiner Ankunft hat er sehr viel Zeit in der Turnhalle verbracht. Er sei ja auch kein Tourist, sondern wolle länger bleiben, „am liebsten für immer“. Dafür lernt er jeden Tag Deutsch im Gemeindehaus der Evangelischen Kirchengemeinde Dahlem, gleich neben der Turnhalle, wohin er nun geht. Der Kurs wird ehrenamtlich von Anwohnern und Gemeindemitgliedern angeboten. Alzeen weiß, dass die Sprache der wichtigste Schlüssel zu einem Leben in Deutschland ist. Er übt fleißig, jeden Tag nach dem Abendessen zusätzlich drei Stunden lang. Der Besitzer des Kiosks am U-Bahnhof Dahlem Dorf versteht ihn bereits problemlos, wenn er sich Zigaretten kauft. Er hat Ehrgeiz, obwohl er nicht weiß, ob er bleiben kann. Am 24. März ist Muhammad Alzeen drei Monate hier. Dann wird darüber entschieden, ob sein Asylantrag bewilligt wird oder nicht.

Mittagessen zwischen 12.30 Uhr und 14 Uhr: Schon um viertel nach zwölf bildet sich eine Schlange im hinteren Teil der Halle. Alzeen reiht sich ein. Außer dem Deutschkurs hat er keine weiteren Termine. Dafür: Zeit. In den vielen freien Stunden in der Halle liest er auf dem Handy Nachrichten über die Lage in Syrien oder hört Musik – Liebeslieder, die er stundenlang vor sich hin summt. Manchmal kommen Menschen, die helfen wollen, in der Halle vorbei. Studenten laden sie regelmäßig zum Kaffeetrinken in ihre Uni ein. Abendessen zwischen 17.30 Uhr und 19 Uhr: Auch die Schulen und Kirchengemeinden in der Nachbarschaft bieten neben dem Deutschkurs Aktivitäten an: Malkurse, Filmabende, ein Sprachcafé. Bevor Alzeen abends schlafen geht, spricht er ein Gebet. Er dankt Gott, Allah, dafür, dass er es nach Deutschland geschafft hat. Und er bittet darum, bleiben zu dürfen. „Inschallah“ – so Gott will. Um 22 Uhr geht das Licht in der Halle aus. An der Wand hoch über den Köpfen der Flüchtlinge hängt eine Anzeigetafel, auf der bei Sportveranstaltungen der Punktestand der Teams angezeigt wird. Heim und Gäste steht auf der Tafel.

Die Autorin ist freie Mitarbeiterin des Tagesspiegel und hat für diese Geschichte viele Tage in der Notunterkunft in Berlin-Dahlem verbracht. Der Text erschien auf der Reportageseite dieser Zeitung und auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten.

Nora Tschepe-Wiesinger

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