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Vier von 104: v.l.n.r.: Daisy Rosato (USA), Luisa van Dyck (Niederlande), Karina Quintana (USA), Abidemi Williams (Jamaica)

© Ulrike Scheffer

Das Bard College in Niederschönhausen: Die Welt ist zurück

Im einstigen DDR-Diplomatenviertel studieren heute 104 Studenten aus 38 Ländern. Doch nur wenige Pankower kennen die kleine Privatuni nördlich des Pastor-Niemöller-Platzes. Ein Ortsbesuch.

Mittags um halb zwei sitzen Abidemi, Daisy, Karina und Luisa vor ihren leeren Tellern in der Mensa und überlegen, wie sie ihren freien Nachmittag verbringen sollen. In Niederschönhausen, denn dort wohnen die 20-jährigen Frauen aus Jamaika, den USA und den Niederlanden. Sie studieren hier sogar. Die langen Tische um sie herum sind bereits leer, nur Soßenreste und Krümel auf den weißen Tischplatten verraten, dass die vier heute nicht die einzigen Gäste der Mensa waren. Draußen auf der Terrasse sitzt das Küchenpersonal bei einem Kaffee in der Sonne. An der Wand hängt ein Flachbildschirm, auf dem die Vorlesungen und Seminare für den Nachmittag angekündigt werden. Es ist das Programm des Bard College, das sich in ehemaligen Botschaften, Konsulaten oder Residenzen aus der DDR-Zeit nördlich des Pastor-Niemöller-Platzes eingerichtet hat. Und so leben und studieren im beschaulichen Niederschönhausen zwischen pensionierten DDR-Funktionären, Künstlern, Wissenschaftlern und neu zugezogenen Westfamilien mehr als 100 Studenten aus fast 40 Ländern.

Eine Mensa mitten in Niederschönhausen.
Eine Mensa mitten in Niederschönhausen.

© Ulrike Scheffer

„Wir sind genau so eine Hochschule wie die Humboldt-Universität oder die FU“, sagt College-Rektor Thomas Rommel. Auch wenn man das dort nicht so gern höre, fügt er lachend hinzu. Am Bard College in Niederschönhausen können Studenten Bachelor-Abschlüsse in Geisteswissenschaften und Ökonomie erwerben, die sowohl in Deutschland als auch in den USA anerkannt werden. Darauf ist Rommel stolz. Und auch auf die Unterschiede zwischen seinem Institut und den anderen Berliner Universitäten. Der wichtigste: Am „Bard“ werden „Liberal Arts“ unterrichtet, ein diskussionsorientierter und vor allem interdisziplinärer geisteswissenschaftlicher Studienansatz, der im deutschen Bildungssystem bisher nicht verankert ist. „Wenn wir hier über die Renaissance sprechen, dann befassen wir uns mit Literatur, Kunstgeschichte und Geschichte gleichermaßen“, erklärt Rommel, der von Hause aus Literaturwissenschaftler ist. Und er strahlt dabei. Eigentlich strahlt er permanent: Wenn er über sein College spricht, über die Studenten, über die „hoch symbolische Stadt“ Berlin. Das mag daran liegen, dass er in den USA gelebt hat, wo gute Laune bekanntlich zum guten Ton gehört, doch Rommels Begeisterung hat nichts Aufgesetztes oder Künstliches.

College-Direktor Thomas Rommel in seinem Büro.
College-Direktor Thomas Rommel in seinem Büro.

© Ulrike Scheffer

Der Mann mit dem blauen Hemd und der kleinen ovalen Brille hat wohl einfach gute Gründe, sich über seine Arbeit zu freuen. Das private College, 1999 aus der Idee einiger deutscher Intellektueller hervorgegangen, in Deutschland Summer Schools nach amerikanischem Vorbild zu etablieren, bietet schließlich traumhafte Bedingungen für Studierende und Lehrende. Auf aktuell 104 Studentinnen und Studenten kommen 15 Professoren und weitere Lehrkräfte, so dass oft nur fünf oder sechs Studenten in einem Kurs sitzen. Praktischerweise finden die Seminare am „Bard“ daher in den Büros der Lehrer statt. Auch Thomas Rommel hat dafür einen großen Arbeitstisch in seinem Zimmer. Er residiert in einem von drei langgezogenen Flachbauten – DDR-Modell „Magdeburg“ - in der Platanenstraße, die den Kern des College bilden.

Die Seminare im Bard-College finden in kleinen Gruppen statt.
Die Seminare im Bard-College finden in kleinen Gruppen statt.

© Bard College

In einem dieser Gebäude liegt auch der einzige Hörsaal mit nicht viel mehr als 50 Plätzen. In diesem Herbst zeigt eine arabische Studentin dort Dokumentationen zur Lage im Nahen Osten, die die Krise in der Region aus arabischer Perspektive zeigen. Ein gewagtes und auch spannendes Projekt angesichts der Tatsache, dass unter den Bard-Studenten viele an den Konflikten beteiligte Nationen vertreten sind: Palästina, Israel, Syrien, Ägypten, USA. Auch im Unterricht bleibt die Weltpolitik nicht außen vor. „Neulich haben wir einen Text von Lessing über die Emanzipation der Juden gelesen, da entspann sich eine Diskussion über die Wertedominanz des Westens in der heutigen Zeit“, erzählt Ulrike Wagner, Dozentin für Deutsch und Literatur, beim Essen mit ihren Kollegen in der Mensa. Auch die kommen überwiegend nicht aus Deutschland.

Drei ehemalige Botschaftsgebäude bilden das Herz des College.
Drei ehemalige Botschaftsgebäude bilden das Herz des College.

© Bard College

Berlin sei eben für viele eine attraktive Stadt, sagt Florian Becker, Professor für deutsche und vergleichende Literatur. Und das nicht nur wegen der interessanten Kneipenlandschaft im Prenzlauer Berg oder in Mitte. "Auch die Geschichte Berlins ist überaus interessant, denn hier ist man mit allem konfrontiert: mit zwei Diktaturen, dem Berlin der 20er Jahre, der Zeit nach der Wiedervereinigung", erklärt er.

Traumbedingungen für Studierende: Der Hörsaal des Bard-College.
Traumbedingungen für Studierende: Der Hörsaal des Bard-College.

© Bard College

2004 finanzierte zunächst eine private amerikanische Stiftung den Aufbau des College, kaufte im ehemaligen DDR-Diplomatenviertel alte Botschaftsgebäude und ermöglichte ein einjähriges „Liberal Arts“-Programm für 57 Studenten. 2011 wurde das Berliner College dem renommierten New Yorker Bard College angeschlossen und erweitert. Etwa die Hälfte der Studenten zahlt die offiziellen Studiengebühren in Höhe von 20.000 Euro, die übrigen erhalten eine Förderung. „Damit auch der junge Mann aus Palästina zu uns kommen kann, der zwar das Potenzial für das Studium hier mitbringt, aber die Gebühren niemals aufbringen könnte“, erklärt Rektor Rommel. Er würde sich mehr Studenten aus Deutschland wünschen. Im Moment gibt es nur fünf. „Das liegt wohl daran, dass Liberal Arts in Deutschland nicht so bekannt sind und viele fürchten, mit unserem Bachelor im deutschen System keinen Anschluss zu finden“, erklärt Rommel. Doch die Angst sei unbegründet.

Doppelzimmer sind der Standard, so wie es auch an US-Colleges üblich ist.
Doppelzimmer sind der Standard, so wie es auch an US-Colleges üblich ist.

© Bard College

Die meisten der Studenten wohnen auch im College. Drei typische Botschafts-Würfelbauten aus der Zeit der DDR in der Waldstraße, Ecke Kuckhoffstraße wurden als Wohnheime hergerichtet. Vor den Eingängen stehen noch die alten Fahnenstandarten, doch drinnen ist von Diplomatenluxus nicht viel geblieben. Zweibettzimmer, ein dunkler, mit Graffiti besprühter Partyraum im Keller, gleich neben den Gemeinschaftsduschen. Der gemeinsame Garten der Gebäude allerdings ist traumhaft – und groß. Zwei Fußballtore stehen irgendwo herum und auch die ein oder andere Weinflasche. Im Sommer werden die Nachbarn des College schon mal mit Gitarrenmusik beschallt. Nicht alle finden das gut. „Es gibt immer wieder Ärger mit den Anwohnern“, erzählt Karina Quintana, die aus Chicago kommt. Doch nicht nur deshalb verbringen die Studenten ihre Abende meist außerhalb Niederschönhausens. „Anfangs sind wir hier ewig herumgelaufen, um eine Bar zu finden, doch die gibt es wohl nicht“, sagt Daisy Rosato aus New Orleans.

Die Studenten des Bard müssen sich zwar zu zweit ein Zimmer teilen. Im Garten haben sie aber viel Freiraum.
Die Studenten des Bard müssen sich zwar zu zweit ein Zimmer teilen. Im Garten haben sie aber viel Freiraum.

© Bard College

Die jungen Frauen könnten freilich in die Arbeitsräume des College gleich neben der kleinen Bibliothek in der Kuckhoffstraße gehen. Denn die sind rund um die Uhr geöffnet. Und sie gehören zu einem geschichtsträchtigen Ort: der ehemaligen Residenz des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik in der DDR, ein etwas heruntergekommenes Gebäude, das aus zwei schlichten zweistöckigen, in der Mitte zusammengebauten Einfamilienhäusern besteht. Tagsüber sitzt hier heute Catherine aus Kanada und hilft den Studenten bei ihren Recherchen.

Doch abends fahren die Studentinnen meist lieber in den Prenzlauer Berg, nach Kreuzberg oder Neukölln. Der Heimweg von ihren nächtlichen Clubtouren war für die Frauen dabei anfangs ein Erlebnis der besonderen Art. „Man muss sich erst daran gewöhnen, dass man hier in Berlin nachts gefahrlos so allein herumlaufen kann“, sagt Karina. „Inzwischen genieße ich das sehr.“

Die frühere Residenz des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik in der DDR in der Kuckhoffstraße ist heute eine Studenten-Bibliothek.
Die frühere Residenz des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik in der DDR in der Kuckhoffstraße ist heute eine Studenten-Bibliothek.

© Ulrike Scheffer

Und auch über ihre Nachbarn in Niederschönhausen wissen die jungen Frauen nicht nur Schlechtes zu sagen. Viele Kontakte gebe es zwar nicht, aber wenn man doch mal angesprochen werde, seien die Leute meist nett und interessiert. Manch älteres Ehepaar aus der Nachbarschaft hat dem College auch schon angeboten, Studenten bei sich aufzunehmen. Und im nahe gelegenen Supermarkt spricht inzwischen sogar die ein oder andere Kassiererin Englisch. Auch die dunkelhäutige Abidemi hat auf Pankows Straßen noch keine negativen Erfahrungen gemacht. „Wenn ich in der Tram aber weiter in den Osten fahre, fühle ich mich immer unbehaglicher“, sagt sie. Und warum sind die vier überhaupt auf die Idee gekommen, in Berlin zu studieren? „Weil Berlin eine wahnsinnig spannende Stadt ist“, sagt eine von ihnen, und die anderen nicken. „Pankow ist allerdings nicht gerade Berlin“, fügt die Niederländerin Luisa van Dyck hinzu, „das ist eher eine Kleinstadt“.

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