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Neue Farbe, neues Thema: Mit diesem Bild lädt die FDP Friedrichshain-Kreuzberg dazu ein, "urbane Fahrradpolitik neu zu denken".

© FDP Friedrichshain-Kreuzberg/Marlene Heihsel

Neue FDP in Berlin: Ja ist denn das überhaupt noch liberal?

Politische Experimente der FDP in Berlin-Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg können helfen, den Kerosin- und Diesel-Liberalismus dieser Tage zu überwinden. Ein Essay.

Ein Essay von Markus Hesselmann

Tegel wurde auch erwähnt. Als Beispiel für einen neuralgischen Punkt, an dem Hacker ansetzen können, wenn sie unserer offenen Gesellschaft schaden und deren Infrastruktur lahmlegen wollen. Keine Rede vom Hauptthema der Berliner FDP der vergangenen Monate, das sich inzwischen sogar bundespolitisch auswuchs: dass dieses liebgewonnene Flughäflein unter Artenschutz zu stellen sei. Stattdessen konzentriert sich Katharina Ziolkowski, freidemokratische Kandidatin für den Bundestag im Wahlkreis Mitte, bei ihrem Gastspiel am monatlichen „Labortisch“ der benachbarten FDP Friedrichshain-Kreuzberg auf Digitalisierung, Bildung, Verbraucherschutz - ein wohltuender Exkurs weg vom Kerosin- und Diesel-Liberalismus dieser Tage. Eine „traditionelle Bürgerrechtspartei“ nennt Ziolkowski die FDP. Aus dieser Position heraus argumentiert sie und macht Wahlkampf.

Während sich im gediegenen Berliner Westen eine mindestens ebenso traditionelle FDP vor allem für Parkplätze und im AfD-nahen Opfertonfall gegen eine „Stigmatisierung des motorisierten Individualverkehrs“ (Originalton aus der FDP Steglitz-Zehlendorf) starkmacht, laufen in Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg liberale Experimente. Labortisch statt Stammtisch, man kokettiert schon begrifflich mit der Vorwärtsgewandheit.

Doch dann: Murren im Auditorium. Ja ist denn das überhaupt noch liberal? Ziolkowski hat Sachen gesagt wie: „Telekom in Staatshand behalten“, „Staat hat Schutzpflicht“, „mehr Verbraucherschutz ins Programm“ und sieht „die FDP in Zugzwang“, ihren Standpunkt zwischen Freiheit und Sicherheit neu auszuloten. Obendrein hatte die liberale Kandidatin kein Problem damit, Renate Künast – Gottseibeiuns! - und die Hetze gegen die grüne Abgeordnete in Social Media als Beispiel dafür zu nennen, dass gesetzliche Regelungen, ja sogar eine „Verpflichtung zur Löschung von Fake-News“ notwendig seien.

Was denn diese Sicht noch von Heiko Maas unterscheide, wird gefragt. Dass der liberale Gedanke fehle, moniert. Dass vieles doch nicht mit liberalen Positionen vereinbar sei, resümiert. Und dann kommt er wieder, erwartbar, dieser angeblich liberale Satz: „Damit müssen wir leben.“ Glaubt man dieser FDP-Strömung, dann ist Politik vor allem Aushalten: Digitale Konzernmonopole, Klimakatastrophe, Verkehrstote, mangelnde soziale Mobilität - kann man nix machen, ist so. Politische Gestaltung? Eigentlich gar nicht so wichtig. Läuft ja. Für uns. Die Dogmatik mancher Liberaler hier erinnert an linke Studenten in Achtzigerjahre-Proseminaren an der FU. Geschlossene Weltbilder, die sich als offen gerieren.

Wie haben es diese Partei und ihre publizistischen Helfer geschafft, andere als Ideologen dastehen zu lassen und sich selbst als Hort des unbekümmert Freiheitlichen zu inszenieren? Erfolg einer Strategie, die vor allem von der Abgrenzung zu dem zu leben scheint, was man irgendwie nicht will: Grüne Gängelung, Emanzen, Kampfradler, linke Oberlehrer. Gegenentwurf: Macht/Redet/Fahrt/Esst doch, was ihr wollt. „Der Wunsch der FDP, jeder möge doch selbst wählen, womit er fährt, ist Liberalismus auf dem geistig-moralischen Niveau von Heidi Klum“, schreibt Ralf Bönt, Schriftsteller und erklärter Linksliberaler, in der Faz. „Oder was ist mit jenen, die gern selbst wählen, was sie atmen?“ Sekundäres komme zuerst, Oberfläche. „Wir haben kein Gespräch über intelligenten Verkehr, nicht einmal mitten im Abgasskandal“, schreibt Bönt weiter. „Vielmehr arbeiten Regierung und Industrie hier eng zusammen, gegen den Bürger.“ Ein Satz, der vor dem Kartellskandal der deutschen Autoindustrie formuliert wurde und im Rückblick prophetisch erscheint.

Beispiel Umweltpolitik

„Als ob wir gegen Umweltschutz wären“, nuschelte der sonst so prägnant formulierende Parteichef Christian Lindner in einem Halbsatz nach der für ihn erfolgreichen NRW-Wahl in sein Ansteckmikrophon. Dagegen sind sie womöglich auch nicht, die Liberalen, aber sie vermeiden penibel den Eindruck, dass sie dafür wären. Denn das könnte ihre soeben zurückeroberte Stellung bei denen gefährden, die das ganze Klima-, Gender- und Inklusions-Gedöns nervt und die vor allem unbehelligt Auto fahren und in Urlaub fliegen wollen.

Warum ticken so viele Deutsche, die sich für liberal halten, so? Warum sind sie so wenig am Gesamtgestalterischen interessiert? „Weil hier keine Idee eines öffentlichen Raumes existiert. Die Deutschen betrachten ihn ja als Privatsache, in dem sie möglichst in Ruhe gelassen und schon gar nicht kontrolliert werden wollen. Hauptsache, keiner nimmt einem die Flasche Bier ab.“ Die Bemerkung stammt nicht von einem Gängel-Grünen, sondern von Ralf Dahrendorf, einem Liberalen, der gestalten, nicht laufen lassen wollte. Er unterschied zwischen „material-aktiven“ (sozialliberalen) und „formal-passiven“ (wirtschaftsliberalen) Freidemokraten.

„Zu den unabdingbaren Menschenrechten gehört das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand.“ Auch das ist kein Programmpunkt der Grünen, sondern steht so in den „Freiburger Thesen“, dem sozialliberalen Programm, das ein ganzes Kapitel über „Umweltpolitik“ beinhaltet und 1971 erschien, als an eine deutschlandweite Ökobewegung oder gar grüne Partei noch niemand dachte.

Auf der FDP-Homepage zur Bundestagswahl 2017 muss man nach „Umweltpolitik“ länger suchen. Keine der auf der Startseite hervorgehobenen Thesen befasst sich damit. Über den Menüpunkt „Wahlprogramm“ stößt man unter 20 Lindner-Bildern auf einen alphabetischen Index über den eine spärlich beschriftete Seite zur „Umweltpolitik“ aufrufbar ist. Dort werden drei Forderungen hervorgehoben, die allesamt das Ziel haben, Windkraft zurückzudrängen. Als ob dies derzeit der wichtigste umweltpolitische Punkt wäre. Politik der fixen Idee, am Popanz orientiert, Symbolpolitik. Windkraft: das negative Tegel der FDP-Wahlkampagne.

Beispiel Verkehrspolitik

„Überwachung und Kontrolle der Radwege und Sicherstellung und konsequentes Ahnden von Zweite-Reihe-Parkern durch Polizei und Ordnungsamt.“ Jetzt sind wir aber doch ins Programm der Grünen rübergerutscht, oder? Nein. die Forderung steht so in einem Beschluss des Landesausschusses vom 28. März 2017 des FDP-Landesverbands Berlin. Eingebracht wurde das Papier von der FDP Friedrichshain-Kreuzberg. Ein zartes Pflänzchen wächst zwischen Althergebrachtem. Man habe „ein Konzept für urbane Mobilität auf den Weg gebracht“, sagt David Kordon, Bezirksvorsitzender der FDP in Friedrichshain-Kreuzberg, „das Belange aller Verkehrsteilnehmer beachtet und insbesondere den sträflich vernachlässigten Fahrradverkehr deutlich verbessern wird“. Kommt sowas gut an in der Berliner FDP oder gar bei den Liberalen im Bund? „Ich habe den Eindruck, dass Bundes- und Landespartei unsere Initiativen mit Interesse verfolgen“, sagt Kordon.

Lob gibt’s vom Bundesgeschäftsführer: „Die Freien Demokraten in Friedrichshain-Kreuzberg denken frisch, unkonventionell und manchmal auch um die Ecke“, sagt Marco Buschmann, wenn man ihn nach den Berliner Liberallaboranten fragt. „Das ist eine Bereicherung für jede Organisation. Für eine liberale Partei wäre ein Denken in Uniformen tödlich.“

Ein weiterer wichtiger Satz in dem Papier, das elf Maßnahmen zugunsten des Radverkehrs auflistet und ihm eine wichtige Funktion in der „urbanen Mobilität“ zuschreibt: „Solch eine Politik erhöht die Verkehrsmittelwahlfreiheit, indem sie eine tatsächliche Verkehrsmittelwahl herstellt.“ Dass sie hergestellt werden muss, impliziert, dass es diese Wahlfreiheit bislang nicht gab. Im Grunde ein Eingeständnis einer jahrelangen, mit liberalem Zutun aufs Auto fixierten Verkehrspolitik. Interessant, dass eine liberale Parteigruppierung in der Hauptstadt das jetzt einmal so hinschreibt und diskutiert. Zu hören ist davon im Wahlkampf wenig, aber es steht zumindest schon einmal da und man könnte darauf aufbauen.

„Eine tatsächliche Wahl herstellen“ – ein urliberaler Ansatz, der sich von der Verkehrspolitik auf andere Bereiche übertragen lässt. Denn hier geht es um Chancengleichheit, nicht um Gleichmacherei. Ein ordnungspolitischer Rahmen ermöglicht erst die freie Entfaltung des Individuums. Und dieser ordnungspolitische Rahmen muss gestaltet werden, er ist nicht von Natur aus da und entwickelt sich nicht übers „Damit müssen wir leben“, übers Aushalten.

Hier kann eine spannende Debatte über Liberalismus in Deutschland ansetzen. Nicht nur in Programmen und Papieren, die erst hervorgekramt werden müssen, sondern forsch heraus in Interviews und Gastkommentaren, in Talkshows und Social Media und auf Debattenportalen.

Ergänzend zu diesem Essay hat der Autor ein Interview mit FDP-Bundesgeschäftsführer Marco Buschmann geführt, das Sie hier finden, sowie eines mit dem Bezirksvorsitzenden von Friedrichshain-Kreuzberg, David Kordon, das Sie hier lesen können. Der im Text genannte Beschluss zur "urbanen Mobilität" wird hier dokumentiert.

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