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Dmitrij Belkin. Autor des Buchs "Germanija - Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde".

© promo

Neues Buch von Dmitrij Belkin: Germanija: Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde

In seinem Buch "Germanija" beschreibt Dmitrij Belkin seinen Weg in Deutschland als "Kontingentflüchtling". Jetzt lebt und arbeitet er in Berlin. Hier eine Leseprobe.

Berlin, wo wir ein Jahr nach der Bar Mizwa von Mark landen, wird zur Stadt unseres Sohnes, der sich hier von Anfang an wohlfühlt. Er kommt aufs Jüdische Gymnasium und tritt, sehr zu meiner Freude, in meine journalistischen Fußstapfen: In der Jüdischen Allgemeinen schreibt er etwas über die Flüchtlingsfrage und erzählt in diesem Artikel auch von unserer Familiengeschichte, um zu sagen, nun ja, wir kennen das. Im Tagesspiegel schreibt er über die jüdische Geschichte und die jüdischen Nachbarn, die vor 1933 in unserem Bayerischen Viertel gelebt haben. Als wäre das das Normalste der Welt! In der Tat: Es ist das Normalste der Welt, wenn wir im Kino am Bundesplatz einen tollen Film über den Berliner Jüdischen Friedhof Weißensee sehen und zwei russische Jüdinnen hinter uns laut und stolz flüstern hören: »Nashi! – die Unsrigen!« Die Damen meinen einen Grabstein mit russischen Inschriften, der gerade eingeblendet wurde. Mein deutscher Sohn und ich schauen uns an und lachen.

»Wir hatten das alles nicht – sie sollen das alles bekommen«, so reden wohl alle Eltern und Großeltern zwischen Kiew und Damaskus über ihre Kinder, für die angeblich »das alles«, vor allem ihre verrückte Auswanderung, gemacht wurde. »Wir hatten so viel, zum Beispiel uns, unsere Zeit und unsere Gedanken – Mark soll das alles und noch viel mehr bekommen«, sagen Ljuda und ich. Und er bekommt alles – und muss zu seinem Leidwesen auch noch gelegentlich Ausflüge in die Vergangenheit seiner Eltern mitmachen, zum Beispiel zum Urlaub nach Odessa oder in eine Filiale der Berliner Ladenkette »Rossija«, wo ich ab und zu das symbolische Produkt einer sowjetischen Marke kaufe, Quark, Käse oder Kaviar. Mark begleitet mich auf diese Ausflüge und lässt sie klaglos über sich ergehen, aber eigentlich findet er sie archaisch.

Der Grund für unseren Umzug nach Berlin ist meine neue Stelle beim jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk, ELES. Ich betreue dort die Promovierenden und mache das Programm für die Alexandras, Sergeys, Rimmas, Naomis und Benjamins, die, oder genauer gesagt: deren Eltern, aus Kiew, Moskau, Dnepropetrowsk, Tel Aviv, Haifa oder Frankfurt stammen und die nur unwesentlich älter als mein Sohn sind. Wir fördern sie und ermutigen sie, eine selbstbewusste Position innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu finden. Ich wünschte, so etwas hätte es schon in den Neunzigern gegeben, als ich und viele andere »Kontingentflüchtlinge« uns rat- und orientierungslos an den deutschen Universitäten bewegten.

»Ich bin das nicht und jenes nicht geworden, und ich werde dir meine Erfahrung gern weitergeben«, schrieb ein sowjetischer Jude aus Odessa namens Michail Schwanecki an seinen Sohn. Was kann ich den jungen Leuten mitgeben? Den Perestrojka-Idealismus und die darauf folgende Ernüchterung meiner Generation? Unsere Hoffnungen und die darauf folgenden Enttäuschungen? Wer studiert heute Geschichte? Wer Philosophie? Wer verbindet »russische Ideen« mit dem Judentum und mit dem deutschen Idealismus?

Dmitrij Belkin im Hinterhof im Bayerischen Viertel.
Dmitrij Belkin im Hinterhof im Bayerischen Viertel.

© Ljudmila Belkin

Kaum jemand braucht heute noch sechs Bücher in drei Taschen zu transportieren – ein Tablet, ein Laptop schafft bei Bedarf Zugang zu allen Bibliotheken der Welt. Zwar kennen die, deren Eltern aus Osteuropa stammen – und dazu zählt der größte Teil unserer Stipendiaten –, die Qualen und die migrantische Verzweiflung der vorangegangenen Generation noch aus Erzählungen oder sogar aus eigener Erfahrung; im Geschichtsunterricht haben sie gelernt, dass es mal eine Welt der geschlossenen Grenzen und der streng voneinander getrennten Identitäten gegeben hat. Aber das ist nicht mehr ihre Welt.

Unsere Stipendiaten blicken nach Israel und Amerika, wollen in Germanija unbedingt ihr kleines, stolzes jüdisches »gallisches Dorf« retten, liebevoll pflegen und bewahren, hadern mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft und deren – mitunter auch antisemitischen – Vorurteilen. Sie kämpfen für eine gesellschaftliche Pluralität und für die eigene Zukunft. Viele von ihnen studieren Medizin, Jura, Psychologie und Politik und begehen jüdische Feiertage – nicht den »Tag des Sieges« am 9. Mai. Sie wollen keine Länder mehr retten, die Sowjetunion ist für sie eine untergegangene Insel, aus der einige wenige Fragmente weiterbestehen und wo ihre Familien einst in der sozialistischen Steinzeit lebten, in einem Jenseits, das von dem hiesigen Diesseits unendlich weit entfernt liegt und trotzdem bei Bedarf immer besucht werden kann. Doch ihre Reisen – die meisten von ihnen beherrschen vier oder fünf Sprachen – führen sie heute eher nach New York, Tel Aviv und Paris als nach Moskau, Kiew oder Kischenew.

Obwohl: Dieser »Tag des Sieges«, dieser 9. Mai, lebt in der historisch einmaligen und administrativ unregierbaren, chaotischen und schönen Fast-Weltstadt Berlin paradoxerweise wieder auf. Im Treptower Park, in dem ein riesiges sowjetisches Ehrenmal steht, sieht man am 9. Mai zehntausende »Russen« und Berliner Linke. Einige der Anwesenden tragen Kippot, sie sind zwischen 25 und 30 Jahre alt und traditionelle Juden. Ihre etwa neunzigjährigen atheistischen Urgroßeltern, die dabei sind, tragen ihre Medaillen stolz und singen die herzzerreißenden sowjetischen Kriegslieder, die auch bei mir im Auto erklingen, wenn ich alleine unterwegs bin. Die Veteranen weinen und legen rote Nelken nieder.

Die Jüdische Gemeinde in Berlin ist gespalten. Im Unterschied zu Frankfurt, wo die internen Auseinandersetzungen kaum nach außen durchsickerten, ist jeder gemeindeinterne Skandal der wichtigsten und größten Gemeinde Germanijas sofort in der Berliner Tagespresse zu lesen. So hat die Jüdische Gemeinde Berlins im Dezember 2015 ihre Repräsentanz gewählt. Zur Wahl standen zwei Parteien. Die eine, die bisher regierte, hat mehr Stimmen bekommen. Die Konkurrenz hat gut abgeschnitten, die Briefwahl war umstritten. Doch die Berliner Presse konzentrierte sich vor allem auf ein Motiv: »die Russen«! Das sei die herrschende Partei in der Berliner Gemeinde und das eigentliche Problem. Diese russische Partei regiere mit »stalinistischen« und »putinistischen« Methoden, heißt es in der Berichterstattung. Die russischen Zuwanderer würden bei dieser Wahl, aber auch im Gemeindealltag, einander bekämpfen, und in der Berliner Gemeinde würden »sowjetische Verhältnisse « herrschen. Die westdeutschen Gemeinden, wie die Frankfurter oder die Münchener, seien geradezu Oasen im Vergleich zum Berliner Sowjet-Chaos. Ich wundere mich und fühle mich, als wäre ich wieder im Tübingen der Neunzigerjahre und müsste dort den Diskussionen über die Sowjetunion beiwohnen. Die Reduktion der Handlungsweisen der Akteure auf ihre Herkunft, das habe ich inzwischen gelernt, ist eindeutig ein Instrument, das rechte Medien beherrschen. Wissen die oftmals sich als links verstehenden »Russen-Kritiker« eigentlich, was sie da von sich geben?

Nicht über »Stalinisten« oder »Putinisten« hätte man schreiben sollen, sondern über gute, schlechte, katastrophale, tolle, (un-)fähige Berliner Repräsentanten des Gemeindelebens. Doch es war nur von »den Russen« zu lesen! Aus meiner jetzigen Sicht ist das schlicht lächerlich: Ältere und jüngere, begabte und weniger begabte, aufrechte und intrigante, eloquente und stotternde Kandidaten sind vor allem eines: Berliner! Warum schätzt man diese Leute mit ihren zum Teil sehr dramatischen Biografien, die seit dreißig Jahren in der Stadt sind, gar nicht, warum verachtet man sie? Realisiert denn niemand, dass das jüdische Berlin von heute das jüdische Deutschland von morgen sein wird? Nicht ein Sammelsurium zerstrittener, um die Macht kämpfender Akteure, sondern eine pluralistische, auch konfliktträchtige, jüdische Gemeinschaft.

Wenn die Dichterin Anna Achmatowa Recht hatte und Gott tatsächlich alles aufbewahrt, so ist das Berlin des frühen 21. Jahrhunderts die Weltzentrale dieses Archivs: Tragödien, Schmerzen, Freude, Trennungen und Treffen vergangener Zeiten sind hier zum Greifen nah. In Berlin wiederholt sich plötzlich so vieles, oder es kommt einfach vieles zusammen, was ich wiedererkenne.

In Berlin wurde ich in den Vorstand der AG »Juden und Christen« beim Evangelischen Kirchentag gewählt. Als Jude, versteht sich! So kann ich heute einen wichtigen Dialog mit den Christen führen, der noch vor zwanzig Jahren ein Dialog mit mir selbst war: Was bin ich denn, ein Jude oder ein Christ?

Völlig unerwartet treffen wir unsere Vergangenheit in einer Sauna, wo wir den Berliner jüdischen »Russen« begegnen. Sie sind über 50, haben allesamt einen kräftigen Bauch, und manche von ihnen tragen ein massives goldenes oder silbernes Kreuz um den Hals. Soweit ich es erkennen kann, sind sie keine Mitglieder der jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße. Oder doch, im Sinne einer mir vertrauten jüdisch-christlich-atheistischen Mischung der Neunzigerjahre? Riesige Kreuze waren damals ein Statussymbol – ein solider Mensch trug ein solides Kreuz. Die Religion stand dabei nicht im Vordergrund. Die Männer geben sich nach außen gern kriminell, sind aber verletzlich und schüchtern, was man hinter ich rer Grobheit nicht immer sieht. Den Sonntag verbringen sie in der Sauna, dann setzen sie sich in das, was sie ein »evrejskij samolet«, ein »jüdisches Flugzeug« nennen, und fliegen los: in die ehemalige Heimat, die für die Passagiere des »jüdischen Flugzeugs« nicht in Russland und Ukraine aufgeteilt ist und auch keine »himmlische Sowjetunion« ist. Sondern konkrete Städte, in denen sie konkrete Geschäfte haben. »Menschen sind überall«, sagen die Kreuzträger – und das Business auch. Ich hätte nie geahnt, dass mich diese Welt, die so 1990 ist und so vorbei zu sein schien, je wieder einholen würde – werde auch ich mich eines Tages in ein »jüdisches Flugzeug « setzen? Ich würde es nicht komplett ausschließen, ab und zu kann ich es mir vorstellen. Aber: Welches wären meine Geschäfte, bräuchte ich dafür auch ein goldenes Kreuz – und wo sollte ich denn hinfliegen? Vielleicht nach Israel, das mir zunehmend wichtig wird?

Meine Frau rollt nur mit den Augen, wenn ich Israel erwähne. Dorthin reisen, Menschen treffen, da sein – gerne! Aber dort leben? Also lasse ich es bleiben. Auch Ljuda ist inzwischen richtig angekommen und ist jeden Morgen fast eine Stunde unterwegs, um am Institut für raumbezogene Sozialforschung in Erkner zu arbeiten. In Erkner hat man vom Bayerischen Viertel, in dem wir leben, wahrscheinlich noch nie gehört, und im Bayerischen Viertel interessiert sich kaum jemand für Erkner. Ljuda verbindet diese Welten. Als Migrationsforscherin beschäftigt sie sich mit dem Thema Flüchtlinge und damit, wie man die lokalen brandenburgischen Museen für dieses Thema sensibilisieren kann. Wenn sie morgens das Haus verlässt, dann rollt der kleine Vietnamese in der Berliner Straße seine Blumen aus dem Laden (die vermutlich aus Holland stammen). Vielleicht hat auch er früher in der vietnamesischen Hälfte des Heims in Reutlingen-Rappertshofen gelebt, wer weiß.

Peter, der gute Geist unserer Straße, fuhr vierzig Jahre lang Taxi in Berlin und weiß alles über die Stadt. Heute ist er Hausmeister (Hauswart, wie man in Berlin sagt) eines großbürgerlichen Hauses in unserer Nachbarschaft, hat für alle ein gutes Wort, für jedes Kind ein Bonbon und für jeden Hund aus dem Viertel ein Leckerli. Seine Gelassenheit, stelle ich mir vor, kommt von diesem Nicht-mehr-rennen-müssen, ein Stadium, in dem wir Migranten immer noch nicht angekommen sind. Peter musste nirgends ankommen, er war einfach immer schon da. Er berlinert ruhig im Kiez vor sich hin und hält das schicke Haus, in dem die reichen Witwen der verstorbenen trinkenden Stars der Kulturszene der Bundesrepublik, die scheinbar nüchternen Autoren mit ihren Hunden und die Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft ohne jegliche Hunde wohnen, in vorbildlicher Ordnung.

Wenn Ljuda schon längst in Erkner und Mark auf dem Weg zur Schule ist, verlasse auch ich die Wohnung und gehe an Peter vorbei. Wie immer, habe ich es eilig, doch ein Small Talk, ein Handschlag und ein Lächeln müssen einfach sein. »Na, allet jut, junger Mann?«, fragt Peter. »Allet jut, Peter, danke!«, sage ich.

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