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"Alles, was erinnern hilft, ist gut." Johannes Tuchel, 57 (hier auf einem Archivbild), ist Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

© p-a/dpa

Gedenkstättenleiter zu Stolpersteinen: „Erinnerung mit Zwang funktioniert nicht“

Welche Formen des Gedenkens an den NS-Terror braucht eine Stadt wie Berlin? Der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Interview.

Herr Tuchel, selten hat es ein Konzept der Erinnerung gegeben, dass so eine Verbreitung gefunden hat wie die Stolpersteine. Warum sind Stolpersteine so erfolgreich?

Stolpersteine sind so erfolgreich, weil sie in die Alltagswelt eingebaut sind. Dort erinnern sie in klarer, eindeutiger Form an menschliche Schicksale.

Die Form ist klar, aber ist sie nicht auch zu knapp? Ist es nicht eine unzulässige Verkürzung, ein Leben auf seine Eckdaten und, zumeist, den Schrecken seines Endes zu reduzieren?

Überhaupt nicht. Stolpersteine heißt ja: Du kannst darüber stolpern. Man kann dieses Stolpern dann ignorieren, hinter sich lassen. Oder man fängt an, sich Gedanken darüber zu machen. Dann sind die Stolpersteine gerade in dieser knappen Form ein Ausgangspunkt für weiteres Erinnern, weiteres Nachfragen.

Es gibt Menschen, etwa Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelischen Kultusgemeinde München, die gegen die Verlegung von Stolpersteinen sind, sich durch das mit Füßen getretene Gedenken regelrecht beleidigt fühlen. Wie sehr ist auf ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen?

Stolpersteine und Gedenktafeln sind natürlich immer Teil einer erinnerungspolitischen Debatte. Sie stehen und entstehen ja nicht im luftleeren Raum. Bedenken müssen ernst genommen werden, aber gerade in einer pluralistischen Gesellschaft gilt der Hinweis, dass die Formen des Gedenkens vielfältig sind. Ich denke, dass Städte und Kommunen hier wenig regulativ eingreifen sollten – wie sie es ja etwa in München, mit dem Stolperstein-Verbot, nach wie vor tun. Dass im Einzelfall der Wunsch von Angehörigen, Hinterbliebenen, nach Nicht-Verlegung respektiert werden muss, ist aber auch selbstverständlich.  

Sie sagen selbst: Man kann die Stolpersteine ignorieren. Man kann auch absichtlich rücksichtslos auf ihnen herumtrampeln. Müssten Zeichen des Gedenkens nicht größer und damit immun für diese Formen der Ächtung sein?

Es ist ja gar nicht so, dass bei großen Gedenkstätten die große Form der Erinnerung immer gleich gewährleistet ist. Und gerade die kleine Form macht es unaufdringlich möglich, eine eigene Entscheidung zur Erinnerung zu treffen. Außerdem: In der Summe sind die Stolpersteine auch kein so kleines Zeichen. Wenn Sie an Orte gehen, wo viele von ihnen verlegt sind, etwa ins Bayerische Viertel, wo ja auch ich lebe, fügt sich das zu einem eindrucksvollen Denkmal. Gerade, weil die Stolpersteine von Haus zu Haus ganz anders behandelt werden: Vor dem einen sind sie blank poliert, vor einem anderen mit Laub bedeckt.

Ist das nicht auch ein Problem? Dass die Steine eine fortwährende Anklage und Aufforderung an heutige Hausbesitzer und –bewohner sind, sie respektvoll zu behandeln? Obwohl die ja nur in den seltensten Fällen eine historische Schuld trifft?

Nein, die Steine sind auf keinen Fall eine Anklage gegen  irgendjemanden. Erinnern bedeutet nicht Anklagen. Erinnern bedeutet, Vergangenes zu gegenwärtigen. Und jeder, der in einem Haus lebt, vor dem Stolpersteine liegen, kann die Entscheidung fällen, wie er zu diesen Stolpersteinen steht. Ich finde es toll, wenn sich Leute um die Stolpersteine vor ihrem Haus kümmern, weil es für sie eben auch eine Erinnerung im Nahbereich ist. Aber das kann nie ein Zwang sein. Erinnerung mit Zwang funktioniert nicht.

"Ich sehe keine historische Monokultur."

"Alles, was erinnern hilft, ist gut." Johannes Tuchel, 57 (hier auf einem Archivbild), ist Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.
"Alles, was erinnern hilft, ist gut." Johannes Tuchel, 57 (hier auf einem Archivbild), ist Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

© p-a/dpa

An wen richten sich die Stolpersteine eigentlich hauptsächlich? An die „Deutschen“ in ihrer Umgebung? Oder auch an die Hinterbliebenen von NS-Opfern in aller Welt?

Ganz eindeutig an beide Gruppen. Stolpersteine, Gedenktafeln, aber auch die seit 2011 bestehende Feier jeweils am 18. Oktober zur Erinnerung an die erste Deportation Berliner Juden ermöglichen es, dass nicht nur wir als Berliner bestimmter Ereignisse gedenken, sondern dass sich auch viele Hinterbliebene mit dem Schicksal ihrer ermordeten Verwandten auseinandersetzen können. Ich finde es sehr überzeugend, dass etwa zur Setzung von Stolpersteinen Hinterbliebene nach Berlin kommen, vielfach zum ersten Mal, und sich darüber freuen, dass in dieser Stadt an das Schicksal ihrer Angehörigen erinnert wird.

Nun sind Stolpersteine in Berlin ja sehr etabliert, Bezirksämter helfen Initiativen und Initiatoren bei Recherche und Verlegung. Wie groß ist die Gefahr, dass es nun zu einer staatlich geförderten Monokultur des Gedenkens kommt?

Wir haben in Berlin nach der letzten Zählung fast 3.100 Gedenktafeln, die an historische Ereignisse erinnern, außerdem noch viele freistehende Denkmale. Im Bayerischen Viertel ist etwa das 80 Tafeln umfassende Denkmal „Orte des Erinnerns“  von Renata Stih und Frieder Schnock hervorzuheben. Da sehe ich die Gefahr einer historischen Monokultur nicht. Ich sehe auch keine Gefahr der Verbeamtung der Stolpersteinbewegung. Denn was die trägt, sind lokale und regionale Initiativen. Das sind Hausgemeinschaften, das sind Einzelne und Gruppen, die sich sehr stark für „ihre“ Stolpersteine engagieren. Dass das von der Verwaltung unterstützt wird, finde ich gut, denn hier ergänzt staatliches Handeln das Engagement.

Was aber, wenn dieses große Engagement überkippt in Feindseligkeit gegenüber anderen Formen des Gedenkens? Wenn etwa die israelische Künstlerin DESSA für ihre „Stolzesteine – Stones of pride“-Schau im Mitte Museum angefeindet wird, weil sie das Konzept „Stolperstein“ mit individuelleren Kunstwerken erweitert, kritisiert, verwirrt?

Gedenken kann immer nur dezentral funktionieren. Es kann nur funktionieren, wenn wir uns wirklich erinnern wollen. Und es kann nie nur über ein Medium funktionieren. Es muss künstlerische Formen der Erinnerung ebenso geben wie historische Gedenktafeln. Da kann ich wirklich nur sagen: Alles, was uns hilft, uns an die Berliner Geschichte zu erinnern, ist gut.

In diesem Kontext stellt sich natürlich auch die Frage nach einer erweiterten Dokumentation. Ein Stolperstein erzählt nur äußerst dürftig von einer Lebensgeschichte. Wir telefonieren hier im Rahmen einer Recherche, die die Geschichte hinter einem Stein erzählt - über Briefe, die die Berliner Jüdin Gertrud Kirsch an ihre nach England emigrierte Tochter geschrieben hat. Wie und wo sollten allgemein Geschichten hinter einzelnen Steinen verfügbar sein?

So etwas können sie längst nicht mehr zentral steuern. Es gibt so viele Schulprojekte, lokale Gruppen, Kiezspaziergänge, unterschiedlichste Formen, mit den Steinen umzugehen. Wichtig ist allein: Man sollte einen Stolperstein nie als einen isolierten Punkt betrachten. Er kann immer ein Ausgangspunkt sein. Und genau so, wie in einer Großstadt wie Berlin Erinnerung unterschiedlich funktioniert, kann es auch sein, dass man bei Stolpersteinen unterschiedlich in die Tiefe geht. Über viele der Personen, die mit Stolpersteinen geehrt werden, wissen wir ja fast gar nichts. Umso schöner ist es, wenn aus vielen Bereichen noch Lebensgeschichten erschlossen werden, die in einem lokalen Bezug stehen – sodass es für Gruppen vor Ort konkrete Anknüpfungspunkte gibt.

A propos Anknüpfungspunkte: Wir leben ja gerade in Zeiten, da Flucht und Vertreibung wieder sehr präsente Themen sind. Ist der Bezug zur Gegenwart etwas, was bei heutigem Gedenken eine explizite Rolle spielen sollte? Oder wird man damit der Geschichte nicht gerecht?

Wenn wir mit Erinnerungszeichen aller Art an Vergangenes erinnern, kann uns das helfen, Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Aber es kann uns keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für gegenwärtige Probleme geben. Stolpersteine erinnern an klare und eindeutige Menschenrechtsverletzungen, sie erinnern an Konzentrationslager, sie erinnern an Massenmord. Sie zeigen, dass wir in unserer gegenwärtigen Gesellschaft sehr vorsichtig und sehr sensibel auf politische Entwicklungen reagieren sollten. Wichtig ist aber: Allein, weil wir uns einen Stolperstein oder eine Gedenktafel angeschaut haben, sind wir nicht immun gegen totalitäre Herausforderungen.

Die letzte Frage bezieht sich noch einmal ganz konkret auf den Stoff unserer Recherche: Was wäre nun in Berlin ein guter Ort, Gertrud Kirschs Briefe zu archivieren und zugänglich zu machen?

Die Formen, wie man Materialien zugänglich machen kann, sind ja ganz unterschiedlich. Es gibt beispielsweise die Webseite stolpersteine-berlin.de, ich könnte mir vorstellen, die Briefe da in digitaler Form und natürlich mit einer Leseumschrift  zu veröffentlichen. Ob das Original hinterher im Landesarchiv oder im Jüdischen Museum liegt, ist zweitrangig. Und vielleicht ist ja auch der Onlinebereich des Tagesspiegels ein Ort, um solche Originaldokumente zu zeigen.

Mit Johannes Tuchel sprach Johannes Schneider. Eine gedruckte Doppelseite zum Thema Stolpersteine, zum Schicksal Gertrud Kirschs und zur Gedenkkultur im Bayerischen Viertel finden sie auf Mehr Berlin im gedruckten Tagesspiegel vom 7. November 2015.

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