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Mornington Crescent, 1965. Ein Gemälde von Frank Auerbach.

© Privatsammlung Eykyn Maclean, LP Frank Auerbach, Marlborough Fine Art, Douglas M. Parker Studio

Frank Auerbach floh vor den Nazis: Aus dem Flüchtling wurde der Künstler

Großbritanniens größter lebender Maler ist ein Flüchtling. Als Kind floh Frank Auerbach aus Berlin vor den Nazis. Zeit, dass seine Heimatstadt ihn mit einer Ausstellung ehrt.

Von Markus Hesselmann

Seine Motive findet Frank Auerbach in der Nachbarschaft, in Camden, Nord-London, zwischen Mornington Crescent und Primrose Hill, dem urbanen Kiez und der Parklandschaft mit Blick über die britische Hauptstadt. "Dieser Teil Londons ist meine Welt", sagt der Maler, der dort seit 1954 im selben Atelier arbeitet, Tag für Tag, nur einen Tag Urlaub macht er im Jahr. "Ich wandere nun schon so lange durch diese Straßen. Ich hänge sehr an ihnen und habe sie so lieb wie andere Menschen ihre Haustiere." Der unprätentiöse Vergleich ist typisch für einen, der die große Geste nicht braucht. Einen, den in seiner Kunst die "aufsässige, unausweichliche Gegenwärtigkeit der alltäglichen Objekte" interessiert. "Für Menschen mit Phantasie sind sie überaus erstaunlich", vertraute er Catherine Lampert, Auerbachs Biographin, Porträtmodell und Kuratorin an.

Die Straßen seiner Kindheit, der Güntzelkiez, die Uhlandstraße auf der einen, die Kaiserallee, heute Bundesallee, und das Bayerische Viertel auf der anderen Seite, haben für Frank Auerbach keine Bedeutung mehr. An den Begriff "Bayerisches Viertel" kann sich der 84-Jährige auch auf entsprechende Nachfrage hin nicht erinnern. Anders als sein Cousin Marcel Reich-Ranicki, der in der Güntzelstraße drei Häuser weiter wohnte, zuweilen an Abenden als Babysitter für den kleinen Frank einsprang und in "Mein Leben" nicht nur über Frank Auerbach schrieb, sondern auch über Wilmersdorf, Schöneberg, den Bayerischen Platz. Und der, im Gegensatz zu Frank Auerbach, in das Haus und den Kiez seiner Kindheit als Besucher zurückkehrte.

Eine kurze Berliner Kindheit

Hätte Auerbach also als Motiv statt Primrose Hill womöglich den Teufelsberg ...? Denkfehler. Wäre Frank Auerbach in Berlin geblieben, würde es den Kriegstrümmerberg im Grunewald gar nicht geben. Im April 1939, mit acht Jahren, musste Frank Auerbach aus seiner Heimatstadt vor den Nazis fliehen. Die Eltern konnten ihren Sohn mit Hilfe der wohlhabenden Schriftstellerin Iris Origo, der die Rettung von Flüchtlingskindern am Herzen lag, noch nach London in Sicherheit schicken. Wie Helene und David Reich, Marcel Reich-Ranickis Eltern, wurden Charlotte und Max Auerbach von den Nazis ermordet. An beide Elternpaare erinnern heute Stolpersteine vor den Häusern Güntzelstraße 49 und 53. Insgesamt liegen 23 Stolpersteine vor dem Haus Nummer 49. 13.200 Juden wurden laut der bezirklichen Stolperstein-Initiative zwischen 1939 und 1945 in Charlottenburg und Wilmersdorf von den Nazis deportiert und ermordet. 55.000 waren es in Berlin insgesamt.

Stolpersteine für Charlotte Auerbach und Max Auerbach in der Güntzelstraße 49 in Berlin-Wilmersdorf. Ihr Sohn, der Maler Frank Auerbach, floh mit einem Kindertransport nach Großbritannien.
Stolpersteine zum Gedenken an Charlotte und Max Auerbach, Eltern des britischen Malers Frank Auerbach, der in Berlin-Wilmersdorf geboren wurde und mit einem Kindertransport vor den Nazis fliehen musste.

© Markus Hesselmann

Frank Auerbach überlebte und beschloss zu verdrängen. Der Kontakt zu seinen Eltern brach im Krieg ab. Wie es ihnen zuletzt in Berlin ergangen war, hat er nie herauszufinden versucht. "Ich habe das gemacht, was Psychiater aus verständlichen professionellen Gründen ungern sehen: Ich lebe in totaler Verleugnung", sagte Auerbach 2009 dem "Evening Standard". "Das hat für mich sehr gut funktioniert. Um ehrlich zu sein: Ich kam nach England und ging auf eine wunderbare Schule und es war wirklich eine glückliche Zeit." Nie in seinem Leben habe es einen Moment gegeben, an dem in ihm das Gefühl aufgekommen sei, er wünsche sich Eltern zu haben.

Flüchtige Erinnerungen an Berlin

Schon bei seiner Ankunft im Internat Bunce Court in Kent, an dem jüdische Flüchtlinge unterrichteten, fühlte er sich auf merkwürdige Art befreit. An die Zeit davor, seine kurze Berliner Kindheit, erinnert sich Frank Auerbach nur bruchstückhaft. Etwa an die Angst der Mutter, der Sohn könne vergiftet worden sein, nachdem ihm jemand im Park eine Süßigkeit geschenkt hatte. Oder an Spritztouren mit der Familie auf dem neu eröffneten Berliner Ring, eine Erinnerung, die zu Tage trat, als Catherine Lampert ihm 2013 von ihrem Besuch eines der Konzerte der deutschen Band Kraftwerk in der Tate Modern erzählte und dabei das Lied "Autobahn" erwähnte.

Es seien nur flüchtige Eindrücke aus Berlin geblieben, die aufgrund solcher Erzählungen ausgelöst würden, sagt die Kunsthistorikerin Lampert über Frank Auerbach, den sie seit Jahren alle 14 Tage in seinem Atelier besucht, um ihm für Porträts Modell zu sitzen und sich mit ihm über Kunst zu unterhalten. Nicht zuletzt daraus ging jetzt das Buch "Malerei und Gespräche" hervor, in dem Catherine Lampert die Karriere Auerbachs essayistisch betrachtet, vom Interesse an Kunst, das im Internat von engagierten Lehrern geweckt wurde, bis zu seinen großen Ausstellungen in London, Venedig, New York oder Hamburg. Von der Treue zu einigen wenigen Menschen, die ihm auch nach Jahrzehnten immer noch Modell sitzen, unter ihnen Catherine Lampert selbst. Oder von Auerbachs Freundschaft und künstlerischer Partnerschaft mit Lucian Freud, einem weiteren gebürtigen Berliner und Flüchtling vor den Nazis.

Bringschuld Berlins?

Auch seine Heimatstadt hat ihn verdrängt. In Berlin ist Frank Auerbach nur Kunstkennern ein Begriff, ein Künstler, der zurzeit in London anlässlich einer Retrospektive in der Tate Britain als "Britanniens größter lebender Maler" ("The Times") gefeiert wird. Zuvor war die Ausstellung, die von Catherine Lampert mit Auerbachs Unterstützung kuratiert wurde, in Bonn zu sehen. Nicht in Berlin. Hier gab es überhaupt noch keine größere Schau seiner Werke. Nach dem Willen Udo Kittelmanns soll sich das ändern. "Eine Auerbach-Ausstellung ist ein persönlicher Traum von mir", sagt der Direktor der Nationalgalerie und dass er sich über den Anstoß in diese Richtung freue. Ein erster Impuls kam von einem Tagesspiegel-Leser. "In Berlin ist der Sohn unserer Stadt und Maler von Weltrang, der vor den Nazis mit einem Kindertransport nach Großbritannien in Sicherheit gebracht worden war, noch nicht wieder angekommen", schrieb Claudius Lotter in einem Leserbrief und wies auf eine "Bringschuld" gegenüber dem Berliner Auerbach hin.

Head of J.Y.M ll, 1984-85. Ein Gemälde von Frank Auerbach.
Frank Auerbach: Head of J.Y.M ll, 1984-85

© Privatsammlung Frank Auerbach

Auerbach selbst wehrt Fragen zu einer möglichen Retrospektive in Berlin und deren Bedeutung für ihn ab: "Ich möchte nicht zu viele Ausstellungen", ist seine entwaffnende Antwort, von Catherine Lampert übermittelt. Auch Udo Kittelmann betont, dass es nicht um Biographisches gehen könne, sondern um die "einzigartige Qualität" seiner künstlerischen Arbeit. Eine Bringschuld außerhalb des Künstlerischen sehe er nicht. Im übrigen konnte es schon wegen der Schließung der Neuen Nationalgalerie, die Berliner Schauplatz einer Auerbach-Ausstellung sein müsste, diesmal nicht zu einer Kooperation mit der Tate Britain kommen. Und in den Jahren zuvor sei es vielfach darum gegangen, erst einmal die immensen eigenen Bestände aufzuarbeiten und zu präsentieren.

Andrew Ranicki, Frank Auerbach, Marcel Reich-Ranicki in London-Hampstead 1970 im Garten des Hauses von Gerda Böhm.
Frank Auerbach eingerahmt von Marcel Reich-Ranicki und dessen Sohn Andrew Ranicki 1970 im Garten des Hauses von Reich-Ranickis Schwester Gerda Böhm im Londoner Stadtteil Hampstead. Gerda Böhm, die zu Auerbachs Porträtmodellen gehörte, hat das Foto gemacht.

© Gerda Böhm, Copyright Andrew Ranicki

Um Biographisches geht es nicht in Auerbachs Kunst, es geht um das Leben. In Anlehnung an den Londoner Maler Walter Sickert wünscht sich Auerbach, seine Kunst sei eine "Seite herausgerissen aus dem Buch des Lebens". Sie solle "ein geheimes Muster des Lebens erkennen und es in Einzelheiten ausdrücken". Seine Modelle wie die Straßen um sein Atelier herum versorgen ihn mit diesen Einzelheiten. Sie sind einfach da, unausweichlich gegenwärtig, und er bleibt ihnen treu. Immer wieder malt er teils seit Jahrzehnten dieselben Menschen und dieselben Straßenecken. "Diese Beharrlichkeit ist beeindruckend", sagt Udo Kittelmann. Die immer wieder aufs Neue Dargestellten nähmen am Leben des Künstlers Anteil und der Künstler am Leben seiner Modelle. Dies zu vergegenwärtigen wäre ein Ansatz für eine Auerbach-Ausstellung in Berlin.

Johannes Grützke grüßt aus dem Kiez

Im Kiez seiner Kindheit gibt es derweil Menschen, die Erinnerungen an ihn pflegen. Zu ihnen gehört Johannes Grützke, der im Haus, in dem einst Marcel Reich-Ranicki lebte, sein Atelier hat. Nachbarn, die zur Eröffnung der Tate-Schau nach London reisten, gab der Berliner Maler einen Katalog seiner Werke samt Widmung für Auerbach mit. Auerbach bedankte sich überschwänglich. Er sei beeindruckt vom Können Grützkes, von dessen Energie und dem verwegenen Schwung seiner Werke. Das alles sei very impressive. "Das 'very' hat er unterstrichen", sagt Grützke und lacht. Auf Grützkes Hinweis, sein Atelier läge nur wenige Häuser von der Wohnung des jungen Frank Auerbach entfernt, ging der britische Kollege nicht ein.

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Die Stolpersteine für Frank Auerbachs Eltern Charlotte und Max ließen der Hauseigentümer und die Hausgemeinschaft auf Anregung der Wilmersdorfer Stolpersteininitiative an der Güntzelstraße 49 verlegen. Wie denkt Auerbach über diese Form der Erinnerung? Seine Gefühle, lässt er übermitteln, seien ähnlich wie die seines Cousins, Marcel Reich-Ranicki. Dessen Sohn Andrew Ranicki hatte bei der Verlegung der Stolpersteine für David und Helene Reich gesagt, dass sein Vater sich anders als er selbst bestimmt nicht für diese Stolpersteine interessiert und sie nicht gebraucht hätte.

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Für Flüchtlingstragik mag Frank Auerbach nicht zur Verfügung stehen. Als der deutsche, seit Jahrzehnten in Großbritannien lebende Schriftsteller W.G. Sebald einen der Protagonisten seines "Emigranten"-Buchs teils an Auerbach anlehnte, dem Maler und Flüchtling den Namen "Max Aurach" gab und sogar ein Werk Auerbachs abbildete, beschwerte sich Auerbach bei dem Verlag, der das Buch herausbrachte. In der englischen Ausgabe wurde daraufhin der Name der Figur in "Max Ferber" geändert, die Illustration wurde entfernt. Auerbach habe die Geschichte für einen Eingriff in seine Privatsphäre und für irreführend gehalten, schreibt Catherine Lampert in einer Fußnote in ihrem Buch.

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Aber was war das Irreführende? Auf Nachfrage überbringt sie diese Antwort von Auerbach: "Er meinte, dass die Geschichte die Beziehung der Persönlichkeit und Biographie eines Künstlers zur Erschaffung von Kunst missverstanden hat, und dass sie völlig humorlos sei." Der 2001 verstorbene Sebald äußerte sich seinerzeit übrigens verständnisvoll: Er könne sich nichts vorwerfen, weil er nur öffentlich zugängliche Informationen verwendet habe. Aber: "Ich ziehe mich zurück, wenn ich ein Gefühl für das Unbehagen einer Person habe", sagte Sebald dem "Guardian".

"Am Ende würde er sich freuen"

Mit Verbitterung oder gar Hass auf die Deutschen hat Frank Auerbachs bewusste Verdrängung seiner Herkunft nichts zu tun. Zuweilen wirkt er für deutsche Leser fast erschreckend verständnisvoll: Niemand könne sicher sein, wie die Briten sich verhalten hätten, wenn Hitler ihr Land erobert hätte, sagte er 1998 der "Times". Er vermeide "all das Nagen an der Vergangenheit", auch wenn ihm sein ganzes Leben lang bewusst bliebe, was geschehen sei. "Ich hatte das Glück, zur 'unschuldigen Seite' zu gehören", sagte Auerbach. "Wenn ich kein Jude wäre, wer weiß, was ich getan oder gefühlt hätte. Auch war ich jung genug, um ohne all das emotionale Gepäck hierherzukommen."

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Und dann kommt doch noch Überraschendes zu Berlin. "Am Ende würde er sich freuen", sagt Catherine Lampert nach längerem Nachdenken als Antwort auf die auch an die langjährige Vertraute gestellte Frage, was Frank Auerbach über eine Ausstellung in seiner Heimatstadt denken würde. "Aber er würde nicht kommen", ergänzt Andrew Ranicki und erzählt, dass zur Eröffnung in Bonn Auerbachs Sohn Jake angereist sei. "Mir wurde klar, dass die Schau in Deutschland als eine Rückkehr gesehen wurde", sagt Jake Auerbach, der sich als Filmemacher auch mit dem Werk seines Vaters befasst. "Dieser Begriff wäre für eine Berliner Ausstellung wohl passender." Auch der Sohn ist sich ziemlich sicher, dass sein Vater nicht nach Berlin kommen würde. "Er verlässt Mornington Crescent selten." Jake Auerbach aber sagt, er selbst wäre gern in Berlin dabei.

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