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Schülerlotsenschild im Bayerischen Viertel in Berlin.

© Ann-Kathrin Hipp

Fairness im Straßenverkehr: Recht des Schwächeren

Wenn Schülerlotsen von Autofahrern bedrängt werden, dann sind das Auswüchse eines Rechts des Stärkeren im Straßenverkehr, das wir nicht hinnehmen sollten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Markus Hesselmann

Selten waren die Reaktionen derart eindeutig, lief die Debatte so klar in eine Richtung: Der Brief einer Lehrerin der Werbellinsee-Schule, in dem sie schildert, wie Schülerlotsen vor dem Schultor von rücksichtslosen Autofahrern bedrängt werden, hat nach seiner Veröffentlichung im Checkpoint-Newsletter des Tagesspiegels ein stadtweites Thema gesetzt, bei dem sich alle einig zu sein scheinen: Das geht gar nicht, da muss doch was passieren! Greift durch, bestraft die Übeltäter, kontrolliert häufiger, stattet die Polizei besser aus!

Mehr Polizei, die im Straßenbild präsent ist, wäre sicherlich hilfreich, wie auch andere Vorschläge: mehr stationäre Blitzer vor Schulen, öfter Tempo 30, höhere Strafen für derart rücksichtsloses, andere Menschen gefährdendes Verhalten. So lange aber der Mut zu einer wirklichen urbanen Neuordnung und damit verbundenen Umgestaltung des Stadtverkehrs fehlt, einer neuen Kultur der Fairness, wirkt all dies nicht dauerhaft. Die Vorfälle, um die es Aufregung gibt, illegale Autorennen oder jetzt die unsägliche Rücksichtslosigkeit gegenüber Kindern, sind nur Auswüchse eines von uns hingenommenen Rechts des Stärkeren auf unseren Straßen, mit dem Fußgänger am Anfang der Nahrungskette und dem Autofahrer am Ende.

Ausgehend vom Konzept der autogerechten Stadt ist Berlin wie andere deutsche Großstädte in den vergangenen Jahrzehnten als motorisierte Metropole betrieben worden. Die in Berlin inzwischen legendäre, weil legendär sture Verkehrslenkungsbehörde ist der Pedell dieser Denkschule. Eine Autovoranbringungsbehörde, die nur dann in die Bremse steigt, wenn  Pläne für fußgängergerechte Ampelschaltungen oder tatsächliche Fahrradstraßen ruchbar werden, also nicht solche symbolpolitischen Übungen, bei denen „Anlieger“ die „Fahrradstraße“ dann doch in Massen zum Durchgangsverkehr nutzen.

Am Pranger des vermeintlich Illiberalen

Aber es ändert sich zum Glück gerade was. Die Radentscheid-Initiative hat schon den rot-schwarzen Senat zum Ende hin schockartig geweckt. Selbst Autofahrer, so stellte sich heraus, sind im Grunde dafür, den Radverkehr in der Stadt sicherer und komfortabler zu machen. Was sich Rot-Rot-Grün nach vielen Ankündigungen nun wirklich traut, das ist eine der spannenden Fragen für diesen Senat. Denn bis ins linke und grüne politische Spektrum sitzt die deutsche Dauerangst  tief, als „Abzocker“, „Regulierer“, „Verbotspartei“ oder was der Pranger des vermeintlich Illiberalen sonst hergibt, zu gelten.

Und irgendwie für mehr Fahrrad zu sein ist für uns Bürger und Wähler das eine, dann aber eine Einschränkung der eigenen bequem motorisierten Mobilität in Kauf zu nehmen, ganz was anderes. Doch es wird nur mit Einschränkungen für die stärksten Verkehrsteilnehmer, die Autofahrer gehen, wenn wir mehr Fairness auf den Straßen wollen, die sich vor allem in  mehr Sicherheit und Mobilität für die Schwächeren zeigt. Da geht es um Kinder, aber auch um ältere Menschen oder Menschen mit Behinderung. Selbst auf den breiten Berliner Straßen und Gehwegen ist der Platz endlich. Wer zum Beispiel breite Radstreifen will, muss auf Autospuren oder Parkplätze verzichten. Wer Lieferwagen nicht in der zweiten, Radfahrer und Fußgänger gefährdenden Reihe halten sehen will, sondern in der ersten am Straßenrand, muss auch dort an die Parkplätze ran.

Zivil-urbaner Konsens verletzt

Die Radentscheid-Initiative ist gar nicht so sehr als Radfahrerding wichtig, sondern als Statement gegen das Recht des Stärkeren. Hier muckt eine Mittelmacht auf und stellt eine  Hegemonie in Frage. Ein Diskurs, der sich gegen unsere urbane Fixierung aufs Auto richtet und an dem selbst  hartgesottene Berliner Autopolitiker nicht mehr vorbeikommen, ist eröffnet.

Kinder, ältere Menschen, Menschen mit Behinderung – sie alle haben ein Recht auf Mobilität. Das wird kaum jemand bestreiten. Das Recht des Stärkeren aber, das auf unseren Straßen derzeit noch herrscht und sich in Vorfällen wie denen mit den Schülerlotsen zeigt, verletzt diesen zivil-urbanen Konsens.  Es gehört abgeschafft.

Haben Sie ähnliche Rücksichtslosigkeiten im Straßenverkehr gegenüber Kindern auf dem Schulweg beobachtet? Oder kennen Sie für Schulkinder gefährliche Stellen in Ihrem Kiez? Unsere bezirklichen Leute-Newsletter befassen sich nachhaltig mit dem Thema, bitte schreiben Sie an leute@tagesspiegel.de. Den Newsletter für Ihren Bezirk können Sie hier kostenlos abonnieren.

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