zum Hauptinhalt
Diese Maultaschen sollten Sie auf jeden Fall aufessen.

© Mike Wolff

Die Kunst des klugen Essens: Speisen Sie mit korpulenten Kellnern

Welche Reize beeinflussen unsere Essensauswahl? Und wann sind wir richtig zufrieden damit? Unsere beiden Gastautorinnen liefern dazu interessante Einblicke.

Zuerst die gute Nachricht: Wir leben in einer paradiesischen Nahrungsmittellandschaft. Der Garten Eden ist dagegen ein Witz. Gleichzeitig, womit wir schon bei der weniger guten wären, wird Ernährung scheinbar immer komplizierter. Irgendwo zwischen Vegetarismus, Steinzeit-Diät, Low-Carb und Detox-Welle haben wir den Überblick verloren und unser entspanntes Verhältnis zum Essen gleich mit. Dabei ist Essen doch eines der sinnlichsten Erlebnisse überhaupt! Damit es das endlich wieder wird ist ein Blick hinter die Kulissen fundamental, besonders hinter unsere eigenen. Die Summe unserer täglichen Essensentscheidungen hat es nämlich in sich: Es sind mehr als 200. Logisch, dass uns nicht jede dieser Entscheidungen bewusst ist und wir nicht grübeln, weshalb wir ein Dessert bestellt haben und in manchen Momenten auf Pommes mit Mayo schwören.

Manche Reize, die auf uns einwirken, tun das nämlich mit großer Intensität und für jedermann sichtbar. Bei anderen wiederum kämen wir nicht einmal im Traum auf die Idee, dass es sich überhaupt um Reize handelt. So oder so gilt: Wir sind derart manipulationsanfällig, dass wir uns nur auf eines verlassen können: unser irrationales Ernährungsverhalten. Wir geben das Steuer in Essensangelegenheiten häufiger aus der Hand, als uns lieb sein kann. Ja, selbst das Gewicht des Kellners wirkt sich auf unsere Entscheidungen aus.

Im Rahmen einer Studie nahmen Wissenschaftler in sechzig verschiedenen amerikanischen Restaurants die Interaktion zwischen Kellnern und Restaurantbesuchern unter die Lupe. Aufgezeichnet wurden der geschätzte Body-Mass-Index der Bedienenden und Speisenden sowie die Bestellungen von Essen und Getränken. Das Ergebnis: Je höher der BMI des Kellners war, desto mehr bestellten die Gäste, und zwar unabhängig von ihrem eigenen Gewicht. Übergewichtige Kellner erhöhten die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Gäste für alkoholische Getränke und einen Nachtisch entschieden, deutlich. Die Studienleiter erklärten dieses Verhalten mit der "sozialen Norm", wonach die Bedienung den Maßstab setze. Ist sie dick, ist es völlig okay, sich selbst den Bauch vollzuschlagen. Ist sie dünn, achten wir genauer auf unsere eigene Verzehrmenge und greifen lieber zum gesunden Salat. Dünne Bedienungen, so die Forscher, sind das personifizierte schlechte Gewissen.

Ist unser Gegenüber dick, essen wir mehr

Stärker noch als das Gewicht des Kellners beeinflusst uns aber das Essverhalten der anderen am Tisch. Sitzen wir mit einer Gruppe zusammen, deren Mitglieder ihr Essen eilig hinunterschlingen, passen wir uns automatisch dem Tempo an. Bestellen die anderen eine Apfelsaftschorle, nimmt man von einem Bier lieber Abstand. Ist unser Gegenüber dick, essen wir mehr.

Wenn der Kellner übrigens jede einzelne Person nach ihren Wünschen fragt, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle am Tisch für ein Gericht derselben Menükategorie entscheiden . "Menschen wollen sich zwar voneinander unterscheiden – aber nicht zu sehr", sagt Brenna Ellison von der University Illinois. Wir wollen in die Gruppe passen und nicht aus der Reihe fallen. Deshalb essen wir in Gesellschaft auch mehr als allein. In der Psychologie wird diese unbewusste Neigung, fremde Verhaltensweisen zu imitieren, auch als "Chamäleon"-Effekt bezeichnet. Woody Allen spitzt diesen Effekt in seinem Film Zelig satirisch zu. Den opportunistischen Protagonisten Leonard Zelig stattete er dafür mit chamäleonartigen Fähigkeiten aus: Trifft Zelig auf Schwarze, färbt sich seine Haut dunkel, hält er sich in der Gegenwart korpulenter Personen auf, wölbt sich sein Bauch.

Ein weiteres Beispiel: Dan Ariely und ein Kollege, die in die Rolle von Kellnern geschlüpft waren, offerierten ahnungslosen Gästen einer Brauerei Freibier. Wählen konnten diese zwischen den Sorten Coppeline Amber Ale, Franklin Street Lager, India Pale Ale und Summer Wheat Ale. Gemeinsam mit dem Bier brachten die Wissenschaftler einen Fragebogen, auf dem die Gäste angeben sollten, ob sie das Bier mochten und ob sie die Wahl bereuten. Nicht alle Gäste bestellten laut, einige mussten ihre Wünsche notieren.

Um gut dazustehen, machen wir Abstriche bei unserer Wahl

Es stellte sich heraus, dass jene, die ihre Bestellung ausgesprochen hatten, die unterschiedlichsten Biersorten wählten – um ihrer Individualität Ausdruck zu verleihen. Dennoch waren sie am Ende weniger zufrieden mit ihrer Wahl als die, die sich still für eine Biersorte entscheiden durften. Mit einer Ausnahme: "Der erste in der Gruppe derjenigen, die laut bestellten, befand sich de facto in derselben Situation wie diejenigen, die ihre Wahl schriftlich trafen, da er unbelastet war durch die Meinung der anderen." Mit dem Ergebnis, dass er am Ende zufriedener als die anderen Personen der Gruppe war.

Die Menschen, so Ariely, insbesondere diejenigen mit einem großen Bedürfnis nach Einzigartigkeit, opferten oft ihren persönlichen Nutzen, um Nutzen in Form von Ansehen zu gewinnen. Kurz: Um gut dazustehen, machen sie Abstriche bei ihrer Wahl.

In anderen Kulturen, wo Individualismus nicht erstrebenswert ist, stellte Ariely das gegenteilige Verhalten fest, zum Beispiel in Hongkong: "Dort wählten die Probanden beim Bestellen in der Öffentlichkeit zwar auch Dinge, in diesem Fall Gerichte, die sie nicht so gerne mochten wie die, die sie im Stillen wählten, aber hier wählten sie dabei dasselbe wie die erste Person in der Gruppe."

Fazit: Gehen Sie in Kneipen mit korpulenten Kellnern, wenn Sie mal wieder richtig schlemmen wollen. Die Kellner werden Ihnen die Wahl des kalorienreichsten Nachtischs erleichtern. Ansonsten gilt: Lassen Sie sich bei der Bestellung nicht zu sehr von Ihren Freunden beeinflussen. Legen Sie sich so rasch wie möglich auf ein Gericht fest!

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "Die Kunst des klugen Essens. 42 verblüffende Ernährungswahrheiten" von Diana von Kopp und Melanie Mühl, dass vor kurzem im Hanser Verlag erschienen ist (250 Seiten, illustriert, 16 Euro).

Die beiden Autorinnen lesen am 25. August um 20 Uhr im Wolff&Eber

Diana von Kopp, Jahrgang 1975, ist Diplompsychologin und Autorin der Bücher „Führungskraft – und was jetzt?“ (2014) und „Warum Piloten glückliche(re) Menschen sind“ (2015). Für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreibt sie regelmäßig den Blog „Food Affair“.

Melanie Mühl, 1976 in Stuttgart geboren, ist seit 2006 Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, für die sie auch regelmäßig den Blog "Food Affair" schreibt.

Wohnen Sie im Bayerischen Viertel oder interessieren Sie sich für diesen besonderen Berliner Kiez? Unseren Kiezblog zum Bayerischen Viertel finden Sie hier. Themenanregungen und Kritik gern im Kommentarbereich etwas weiter unten auf dieser Seite (leider derzeit noch nicht auf unserer mobilen Seite) oder per Email an: bayerischesviertel@tagesspiegel.de. Der Kiezblog hat hier seine eigene Facebook-Seite und twittert hier unter @BayViertel. Twittern Sie mit unter dem Hashtag #bayviertel

Folgen Sie Markus Hesselmann bei Twitter

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false