zum Hauptinhalt
Ansichtssache.

© picture alliance / ZB/euroluftbi

Bezirk der Gegensätze: Wahlkreis Lichtenberg: Harte Kante an der Platte

Lichtenberg steht heute für Aufbruch und Bauboom, bietet bürgerliche Stadtteile und ist heimlicher Liebling der kreativen Szene. Im Bezirk der Gegensätze, der am Wochenende 725 Jahre alt wird, ändert sich derzeit viel. Und wie sieht es damit in der Politik aus?

Nach rund einer Stunde platzt einem Besucher der Kragen: „Wie viel Stundenlohn kriegen Sie denn?“ Leiharbeit sei „Sklavenhaltertum“, von Mindestlohn und anschließender Rente könne niemand leben, die Regierung gehe vor der Wirtschaft in die Knie. Der Mann, Mitte 50, hat eine lange Beschwerdeliste vorbereitet und erklärt auch gleich, dass er das Vertrauen in die Politik längst verloren habe. Seine aufgeregte Stimme überschlägt sich, das „Kandidatenforum“ im Kiezzentrum am S-Bahnhof Wartenberg könnte jetzt seinen dramatischen Höhepunkt erreichen, doch keiner der sechs Kandidaten hat Lust auf einen Schlagabtausch über das Soziale in der Demokratie und wie schwer es sein kann, Freiheit und Gerechtigkeit zusammenzubringen. Der Dialog zwischen den 40 überwiegend enttäuschten Wählern und ihren sechs Kandidaten schleppt sich seltsam müde dahin.

Neu-Hohenschönhausen: Plattenbauten, breite Verkehrsschneisen, zugige S-Bahnhöfe. Eine unwirtliche Gegend, nicht überall, aber hier schon. Um die Ecke wurde ein ganzes Plattenbau-Karree vor vielen Jahren privatisiert, mehrfach weiterverkauft, nun soll endlich saniert, aber gleichzeitig die Miete kräftig angehoben werden. In den Wohnungen leben viele ehemalige Angehörige der DDR-Staatsorgane, Polizei, Armee, Staatssicherheit. Sie fühlen sich bis heute verraten und verkauft. Viele haben noch die subventionierten Wohltaten der DDR im Kopf, ein über 80-Jähriger erinnert gar an eine „Friedensmiete“ in der Weimarer Republik. Unter die Wähler haben sich einige Abgeordnete der Linkspartei gemischt, ein Heimspiel für die Kandidatin, dreifache Direktgewinnerin des Wahlkreises und Vizevorsitzende der Linksfraktion im Bundestag.

Gesine Lötzsch spult ohne Anstrengung den Forderungskatalog der Linkspartei ab. „Hundert Prozent sozial, das ist unser Programm.“ Mindestrente, Mindestlohn, Hartz IV abschaffen. „Lichtenberg ist ja keine Insel“, sagt Lötzsch. Also versucht sie gar nicht erst, auf Lichtenberger Spezifika einzugehen. Später kommt doch noch eines zur Sprache, vielleicht das wichtigste, der unter Besuchermangel leidende Tierpark in Friedrichsfelde. Dahin sollte man mal die Reisebusse umleiten, die immer zur Stasi-Gedenkstätte fahren, findet ein Redner. Die Kandidaten übergehen diesen spöttischen Einwand und versichern unisono, das Heiligtum Tierpark mit allen Mitteln zu verteidigen. Allein Lötzsch kann noch einen draufsetzen: Ab und zu könne sie ein paar Dauerkarten verlosen. Lötzsch spendet auch Ferienfahrten für bedürftige Kinder im Wert von einigen tausend Euro, gespeist aus den Diätenerhöhungen, die ihre Partei im Bundestag abgelehnt hat. Das kommt gut an.

Während Lötzsch spricht, leidet der Herausforderer Qualen. SPD-Kandidat Erik Gührs reibt die Fäuste aneinander, murmelt die ersten Worte einer Gegenrede, dabei ist er noch nicht dran. Dass im Publikum Linken-Abgeordnete sitzen, findet er unfair, aber auch ohne sie hätte er einen schweren Stand. Dabei hat er Soziales und Familienpolitik als seine Schwerpunkte definiert. Steigende Mieten will er bekämpfen, er sei ja selbst gerade erst umgezogen, zahle nun 250 Euro mehr als vorher. Im Publikum rumort es, 250 Euro mehr, der ist wohl keiner von ihnen.

Dabei stimmt das nicht. Gührs, knapp über 30, trug noch das blaue Halstuch der Jungpioniere. Der Erstklässler aus dem Zentrum Hohenschönhausens war „ziemlich sauer“, als die Mauer fiel. Seine Eltern sollten ihn vom Hort abholen, mussten aber erst nach West-Berlin zum Einkaufen. Gührs wohnte in der Platte am Prerower Platz, die Schule war gleich um die Ecke. Aber kann er mit einer Teil-Kindheit in der DDR noch punkten?

Lichtenberg ist weit mehr als die Wohnblöcke von Hohenschönhausen

Ansichtssache.
Ansichtssache.

© picture alliance / ZB/euroluftbi

Lichtenberg ist natürlich weit mehr als die Wohnblöcke von Hohenschönhausen. Der Bezirk bastelt gerade an seinem neuen Image als Auffangbecken für Innenstadtflüchtlinge. 1500 Wohnungen sollen jedes Jahr neu entstehen, das könnte klappen, weil die privaten Investoren mit dem Bezirk und den städtischen Wohnungsbaugesellschaften ein „Bündnis für Wohnen“ eingegangen sind. Es gibt viele Brachen, die man bei der Stadterweiterung in der DDR einfach übersehen hatte. Der Berliner Bauboom ist gerade für Lichtenberg ein willkommenes Entwicklungsprogramm. In den nachgefragten Kiezen werden jetzt die Kitaplätze knapp. Es soll schnell Abhilfe kommen, versprechen alle Kandidaten. Nur mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze hapert es noch ziemlich, findet die CDU.

Lichtenberg feiert an diesem Wochenende sein 725. Gründungsjubiläum. Stadtteile wie Karlshorst und Rummelsburg vermitteln bürgerliche Ruhe und zugleich die Aura einer jungen, unverbrauchten Gegend, in der unterschiedliche Lebensstile und kreative Köpfe willkommen sind. Alte Kasernenstandorte und Fabrikhöfe werden neu bespielt, ohne ihre Geschichte auszublenden. Die sanierten Plattenbauten an der Landsberger Allee oder am Tierpark sind bei ihren Bewohnern beliebt. Im Kaskelkiez am Ostkreuz entwickelt sich Lichtenberg nicht anders als das benachbarte Friedrichshain. Alt-Hohenschönhausen muss sich mit seinen 20er-Jahre-Villen am Orankesee nicht vor Dahlem und Zehlendorf verstecken. Und die Neonazis aus der Weitlingstraße sollen längst weggezogen sein, wobei noch unklar ist, wohin.

Warum er sich den beschwerlichen Wahlkampf gegen eine übermächtige Gegnerin antut? Gührs antwortet mit einem Spruch: „Irgendwer muss ja die Welt retten.“ Der Kandidat trägt Hut und Bart, hat gerade in Physik promoviert, Spezialgebiet „Röntgen-Holografie“, so einer kommt bei den Neu-Lichtenbergern mit West-Hintergrund natürlich besser an als Lötzsch, die sich mit Debatten über den wahren Kommunismus ihre wendeversehrte Klientel sichert, aber bei pragmatischen Mittelschichtlern kaum punkten kann.

Lötzsch hat den Bezirk seit 2002 immer gewonnen, beim letzten Mal mit 29 Prozentpunkten Vorsprung vor dem damaligen SPD-Bewerber. Sie wohnt, wo Gührs groß geworden ist. Auch Lötzsch, 52, ist Wissenschaftlerin, promovierte Philologin, von der Humboldt-Uni „beurlaubt seit 1991“. Seit 1985 ist sie Parteimitglied der SED und ihrer Nachfolgeparteien. Lötzsch ist Parlaments- und Wahlkampfprofi. Die Linke betrachte Lichtenberg genau wie Marzahn-Hellersdorf als „ihr Eigentum“, schimpfen andere Kandidaten hinter vorgehaltener Hand. Es gibt wohlkalkulierte Unschärfen zwischen Parteiwerbung und politischer Bildung. Vor kurzem eröffnete Lötzschs Parteifreundin und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau eine „Ausstellung zum Bundestag“ im Lindencenter am Prerower Platz. Der Bundestag hatte damit nichts zu tun.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false