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Erfolgreich gesucht. Andrea Beermann aus Lichterfelde begegnete vor einigen Monaten erstmals ihrem leiblichen Vater in Ohio, ihr Sohn Lukas hatte nach ihm gefahndet.

© Mike Wolff

Folgen der Besatzung: Die heimlichen Kinder der Sieger

Schätzungsweise bis zu 250 000 Deutsche sind Kinder alliierter Soldaten. Viele kennen ihre Väter bis heute nicht. Ein Treffen im Alliierten-Museum Dahlem.

Bingo! Lukas Beermann hat vor ein paar Monaten auf einen Streich in den USA 35 neue Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins hinzugewonnen – und dazu noch seinen echten Großvater. Eigentlich sind es ja seine Halbtanten, Halbonkel und so weiter. Egal. „Ist doch super“, sagt der 19-jährige BWL-Student aus Lichterfelde-West. Aber wie hat er das geschafft? Und warum?

Die Antwort findet sich in der Geschichte seiner Berliner Großmutter und seiner Mutter Andrea Beermann. Die Oma verliebte sich in Lichterfelde in den frühen 60er Jahren in einen US-Soldaten, bekam von ihm ein Mädchen, doch es gab kurz davor Streit, die Beziehung zerbrach, der GI verschwand auf Nimmerwiedersehen – das damalige Baby ist heute Schulrektorin und Lukas’ Mutter. Über deren wahre Herkunft sprach man in den Jahren ihrer Kindheit und Jugend in der Familie nicht, es war ein Geheimnis.

Erst Lukas, dem kräftigen jungen Mann mit den lebhaft blickenden Augen und detektivischem Talent, gelang es 2016/17, seinen heute 77 Jahre alten tatsächlichen Opa und Vater von Andrea Beermann in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Ohio zu finden. Wie könnte man sein Verhältnis zum einstigen GI nennen? Lukas, der Alliierten- oder Besatzungsenkel? Die Bezeichnung für seine Mutter ist gängiger: Besatzungskind.

Alle auf einen Streich. Lukas Beermann (sechster v. rechts) mit seinen in den USA entdeckten Cousins und Cousinen und seinem gefunden Großvater (vorne Mitte) - dem einstigen GI in Lichterfelde-West.
Alle auf einen Streich. Lukas Beermann (sechster v. rechts) mit seinen in den USA entdeckten Cousins und Cousinen und seinem gefunden Großvater (vorne Mitte) - dem einstigen GI in Lichterfelde-West.

© privat

70 dieser einstigen sogenannten Besatzungskinder trafen sich am Sonnabend zum Erfahrungsaustausch im Alliierten-Museum an der Zehlendorfer Clayallee. Sie reisten aus Deutschland, Österreich und Großbritannien an. Geburtsdatum? Zumeist 1947 bis ’49 oder in den 50er Jahren. Organisiert hatte die Zusammenkunft Ute Baur-Timmerbrink.

Die 71-jährige Reinickendorferin ist selbst ein Besatzungskind, sie wurde in Wien geboren und erfuhr erst im 52. Lebensjahr, dass ihr biologischer Vater ein US-Soldat war. Nach vielen Recherchen entdeckte sie ihn in den Staaten, kam aber zu spät. Kurz vor dem ersten möglichen Treffen war er gestorben.

Seither nutzt Baur-Timmerbrink ihre Erfahrungen, um anderen Besatzungskindern bei der Fahndung nach ihren US-Vätern beizustehen – mehr als 250 000 Kinder sollen nach dem Zweiten Weltkrieg von alliierten Soldaten vor allem in Deutschland, aber auch in England und Frankreich gezeugt worden sein. Baur-Timmerbrink arbeitet mit der britischen Suchorganisation Transatlantic Children’s Enterprise, kurz: GI Trace, zusammen sowie mit dem National Personnel Records Center in St. Louis (Missouri). Dort werden die Unterlagen zehntausender früherer US-Soldaten aufbewahrt.

Mehr als 200 Frauen und Männer konnte die temperamentvolle Helferin bereits mit ihren echten Vätern zusammenbringen. Darüber hat sie ein Buch geschrieben: „Wir Besatzungskinder“. Im vergangenen September wurde Ute Baur-Timmerbrink für dieses Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Sandra Shepherd und ihr Ehemann Toni aus England. In den USA hat sie dank der Suche nach ihrem Vater ihre Verwandtschaft beträchtlich erweitert: Sie gewann drei Halbschwestern und zwei Halbbrüder hinzu.
Sandra Shepherd und ihr Ehemann Toni aus England. In den USA hat sie dank der Suche nach ihrem Vater ihre Verwandtschaft beträchtlich erweitert: Sie gewann drei Halbschwestern und zwei Halbbrüder hinzu.

© Mike Wolff

„Oftmals haben die Menschen jahrzehntelang mit gefälschten Biografien gelebt“, erzählt sie, „genauso wie ich“. Mütter, Stiefväter, die Verwandtschaft hüteten die Wahrheit, hielten eisern dicht, das Thema war tabu. Andere wiederum erlebten im Nachkriegsdeutschland das Gegenteil, sie wurden schon als Kinder diskriminiert, waren der Bankert, das uneheliche Kind vom Feind. Ihre Mutter galt als „Amiflittchen“.

Und dann berichtet Baur-Timmerbrink von den Mühen der Suche. Häufig sei ja nur der Name des GIs bekannt und selbst dieser nur phonetisch. Vielleicht auch noch das Geburtsjahr oder irgendein Wohnort in den USA. Dann beginnt die Geduldsprobe. Puzzlestückchen zusammenfügen, Archivanfragen, googeln, Facebook-Accounts checken, eventuell DNA-Vergleiche. Erfolgsquote: 50:50. Gelingt ein Treffer, folgt die größte Hürde – der Moment der Kontaktaufnahme.

Wie reagiert der Gefundene? Bittere Enttäuschungen drohen, falls er nicht der erträumte Papa ist oder sein Kind nicht willkommen heißt, es gar verleugnet. Doch häufig gibt’s auch anrührende Happy Ends, mit Tränen und großen Gefühlen.

Die Folgen einer Liaison

Sandra Shepherd aus der englischen Grafschaft Bristol hat dieses Glück zwar nicht mehr mit ihrem leiblichen Vater erlebt, aber zumindest mit drei neuentdeckten Halbschwestern und zwei Halbbrüdern in Michigan. Im roten Mantel steht die 74-Jährige am Samstag unter den Flügeln des „Rosinenbombers“ Hastings TG 503 im Hof des Alliierten-Museums und erzählt mit strahlenden Augen ihre Geschichte. 20 Jahre lang war sie auf der Suche gewesen, 2005 wurde sie fündig.

Ihr Daddy war verstorben, aber die neue US-Verwandtschaft freute sich, sie wusste ohnehin Bescheid und feierte sogleich eine Begrüßungsparty. Der Vater hatte seiner Familie in den Staaten von seiner einstigen Liebschaft in England und deren Folgen ehrlich berichtet. Es war eine Liaison vor der „Operation Overlord“, der alliierten Invasion an der Normandie-Küste, an der er als Militärarzt teilnahm.

Später, als Sandra Shepherd heranwuchs, wollte er sie kennenlernen, schrieb ihr Briefe – aber die Großmutter, bei der Sandra lebte, fing die Post ab. Erst als Erwachsene bekam sie von einem Onkel kurz vor dessen Tod eines der Schreiben. Er hatte es einst entdeckt und 15 Jahre lang stillschweigend aufbewahrt.

Tanzpartys mit den Dorfmädels

Ganz anders verlief die Geschichte von Andrea Schmidt (71) aus München. Die Einheit ihres amerikanischen Vaters lag nach dem Krieg in einem Kloster in Oberbayern. Anfangs war es den GIs streng untersagt, mit der deutschen Bevölkerung Kontakt aufzunehmen, „Aber das gefiel den Jungs wohl nicht“, sagt Schmidt.

Es gab Proteste, bis schließlich Tanzpartys erlaubt wurden, zu denen die Soldaten „die Dorfmädels“ einladen durften. Die hungerten nach Leben, waren fasziniert von Nylons, Schokolade, Lippenstiften und den lässigen GIs. Auch ihre Mutter war beim Tanz dabei und ließ sich in diesem verstörend schönen Frühling mit einem Soldaten ein. Neun Monate später kam Andrea Schmidt zur Welt.

Schon als Fünfjährige belauschte sie ein Gespräch ihrer Mutter mit deren Schwester und erfuhr die Vorgeschichte, aber die Mutter „schwieg den Vater tot“. Als Andrea Schmidt 2006 seine Adresse ausfindig machte, war er verstorben. Es gibt zwar einen Halbbruder, aber der will nichts von ihr wissen.

Zurück zu Andrea Beermann aus Lichterfelde und ihrem Sohn Lukas. Beide sind auf der Suche nach dem leiblichen Vater und Opa sogar zweimal zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. Andreas Mutter lernte ihren GI in der damaligen Army- Schwimmhalle an der Finckensteinallee kennen.

Er war in der Nähe in den Andrew- und McNair-Barracks in Lichterfelde-West stationiert. Heute sind die Barracks zu modernen Wohnungen umgebaut. Andrea Beermann ist dort mit ihrer Familie zu Hause.

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