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Raed Saleh sitzt seit zehn Jahren für die SPD im Abgeordnetenhaus.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berlins SPD-Fraktionschef Raed Saleh: „Ich will den älteren weißen AfD-Wähler zurückholen“

Im Interview spricht Raed Saleh über berechtigte Sorgen der „Wutbürger“, die Chancen von Rot-Rot-Grün im Bund und einen Kanzlerkandidaten Gabriel.

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Herr Saleh, kurz nach der SPD-Wahlniederlage in Berlin haben Sie einen radikalen Kurswechsel gefordert. Wo ist der denn jetzt?

Meine Worte waren ein Weckruf. Wir sind als SPD mit einem blauen Auge davongekommen. Aber wir müssen uns ehrlich machen: An vielen Orten in Berlin haben wir den Charakter einer Volkspartei verloren. Wir haben uns von Teilen der Bevölkerung entfremdet, spüren oft die Themen der Stadt nicht mehr. Die Bilder des Wahlabends hatten mit dem desaströsen Ergebnis ja nicht viel gemein.

Sie meinen die Bilder des jubelnden Regierenden Bürgermeisters Michael Müller?

Die Realität ist für viele Berlinerinnen und Berliner eine andere, sie spüren gewaltige Veränderungen und bekommen von uns zu wenige Antworten. Es ist ja richtig, den Flüchtlingen zu helfen. Aber man muss den Leuten erklären, warum man das tut und welche Folgen das hat. Außerdem muss die SPD lernen, dass unsere Macht nur geliehen ist. Die Stadt gehört uns nicht. Unsere 21,6 Prozent waren wie ein blauer Brief von den Wählern: Eure Versetzung ist gefährdet.

Trotzdem wurden die meisten Senatoren der SPD versetzt und machen weiter. Wo ist da der Neuanfang?

Der Regierende Bürgermeister hat seine Mannschaft ausgesucht. Er setzt dabei auf Kontinuität. Das respektiere ich.

Bei seiner Wahl am Donnerstag fehlten Müller vier Stimmen der neuen Koalition. Woran lag’s?

Der Regierende wurde im ersten Wahlgang mit einem starken Ergebnis gewählt, das war 2006 anders. Die Arbeit kann losgehen.

Herr Saleh, Ihre eigenen Ambitionen sind ja unverkennbar. Wann wollen Sie eigentlich Michael Müller wegputschen?

Der Regierende Bürgermeister wurde in dieser Woche gewählt und hat meine volle Unterstützung. Loyalität und kritische Betrachtung unserer Arbeit sind kein Widerspruch, wir werden weiterhin immer um die beste Idee ringen. Die Fraktion steht loyal zu ihrem Regierungschef. Aber selbstverständlich sind wir kein Abnickverein.

Schon vor seiner Wiederernennung in dieser Woche lagen bei Michael Müller die Nerven blank, etwa im SPD-Präsidium und im BER-Aufsichtsrat. Ist er zu dünnhäutig?

Ich finde, der Regierende Bürgermeister ist lange genug dabei und Profi genug. Wir haben eine professionelle und gute Zusammenarbeit. Daher steht es mir auch nicht zu, Haltungsnoten zu vergeben.

Umgekehrt gefragt: Sind Sie selbst zu karrierefixiert?

Wissen Sie, ich musste in meinem Leben immer hart arbeiten, aber das hat mich nie gestört – es ist Teil meiner Identität. Ich habe ein Brennpunktschulprogramm für die schwächsten Schulen durchgesetzt, ich habe den Beschluss für eine gebührenfreie Kita erreicht, um endlich die hart arbeitenden Familien zu entlasten – ja, da bin ich zum Teil mit dem Kopf durch die Wand. Wenn das Leute für karrierefixiert halten, bitte schön. Ich bin zumindest nicht so karrierefixiert, mit Lobbyisten anzubandeln. Ich setze diesen skrupellosen Leuten, die ihre privaten Interessen über die Parlamente durchsetzen wollen, ein Stoppschild vor die Tür.

Ist die SPD nicht längst Staatspartei?

Wahr ist: Die Sozialdemokratie muss wieder spürbar breiten Bevölkerungsschichten die Hoffnung auf gesellschaftlichen Aufstieg geben, auch im Bund. Wir haben mal die Arbeiter emanzipiert, ihnen zu Lohn und Brot verholfen; dann sind wir für die Rechte der Frauen marschiert. Jetzt haben wir eine neue Aufgabe: Die soziale Unterschicht, die Armen und Bildungsfernen, oft genug leider mit Migrationshintergrund, müssen wir emanzipieren, ihnen Bildung ermöglichen, ihnen Mut geben, ihre Kinder fit machen. Es geht nicht darum, mit Sozialleistungen neue Abhängigkeiten zu schaffen. Vielmehr müssen wir dagegen kämpfen, dass Armut mittlerweile vererbt wird. Ich möchte nicht in einer Stadt leben, wo die Frage, ob ich in Dahlem oder Nord-Neukölln geboren bin, über meine Perspektiven entscheidet. Wir müssen eine soziale Neuerfindung der SPD hinbekommen.

Aber wie wollen Sie das gerade in Berlin schaffen? Sie sitzen mit starken Linken und erwachsenen Grünen in der Regierung – da bleibt kaum Platz mehr links von der Mitte.

Wir können auch so weitermachen wie bisher – aber dann wird die Sozialdemokratie bedeutungslos. Wir müssen wieder die Partei der sozialen Gerechtigkeit werden, des sozialen Aufstiegs. Deshalb sollten wir Bildung und Integration zur Gemeinschaftsaufgabe im Bund machen. Das kann man nicht nur den Ländern überlassen, das muss ganz oben angesiedelt werden. Das wäre ein linkes Projekt.

Kann das linke Projekt Rot-Rot-Grün im Bund funktionieren? Außenpolitisch wirkt die Linke nicht regierungsfähig.

Wer in Regierungsverantwortung ist, passt sich den Realitäten an. Und auch die SPD muss sich ja ändern. Der persönliche Streit zwischen Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine hat unsere Zusammenarbeit auf Jahre gelähmt. Jetzt müssen die Parteien aufeinander zugehen, damit Rot-Rot-Grün eine gute Option wird. Denn gesellschaftlich gibt es eine linke Mehrheit.

Wer ist denn der richtige Kanzlerkandidat für Ihre Partei?

Vorrangig ist nicht der Kandidat, sondern unsere Haltung. Aber selbstverständlich ist der Bundesvorsitzende Sigmar Gabriel ein guter Kandidat. Er kommt aus sehr einfachen Verhältnissen, hat Charakter und viel zu erzählen. Er hat sich sein Leben lang durchgeschlagen und Erfahrung erarbeitet. Seine Vita kann Menschen Mut machen. Und er hat eine Gabe, die die meisten Sozialdemokraten so nicht haben: Er ist ein Kümmerer mit Instinkt, er fühlt schnell, was die Leute auf der Straße denken, beantwortet Briefe von Bürgern noch selbst. Er ist das Gegenmodell zur Arroganz der Macht, die uns doch immer vorgeworfen wird.

Aber wäre er als Kanzler nicht zu sprunghaft?

Seine Stärken überwiegen, seine Schwächen kennt er selbst. Ich wünsche mir auch bei ihm mehr Mut im Kampf gegen Lobbyisten. Aber ansonsten sollte meine Partei öfter seiner Empathie vertrauen. Wenn er sagt, man dürfe die meckernden Menschen in den Kneipen nicht aufgeben, dann hat er recht. Wir können die der AfD nicht überlassen. Nicht jeder, der sich verunsichert fühlt in diesen Zeiten, ist ein Rechtspopulist.

Oder ist Martin Schulz der bessere Kandidat? Laut „Deutschland-Trend“ würden bei einer Direktwahl 19 Prozent Sigmar Gabriel wählen, acht Prozentpunkte weniger als im September. Der Abstand zwischen Angela Merkel mit 43 Prozent und Martin Schulz mit 36 Prozent wäre knapper.

Alle fragen sich, ob wir mit Schulz, Olaf Scholz oder Gabriel in den Wahlkampf ziehen – ich frage mich, wie wir die Wahlen gewinnen. Wie gesagt, die Frage ist nicht nur, mit welchen Personen wir in den Wahlkampf ziehen, sondern mit welcher Haltung.

Vor wem haben Sie im Wahlkampf eigentlich mehr Angst: vor der sozialdemokratischen Angela Merkel oder der AfD?

Sozialdemokratie darf sich nicht auf eine bürgerliche Elite reduzieren oder auf linksintellektuelle Kreise. Unsere Wähler arbeiten hart, um ihre Familie durchzubringen, sie sparen auf ihren Jahresurlaub. Diese Leute haben das Gefühl, dass die soziale Marktwirtschaft sie nicht mehr schützt und dass die Politiker sie an gierige Privatkonzerne verraten. Wenn wir diese Leute zurückgewinnen, können wir wieder eine stolze SPD sein.

Also soll die SPD im Bundestagswahlkampf die Vermögensteuer fordern?

Ja, wir brauchen die Vermögensteuer, und ich würde noch weitergehen. Wir müssen Managergehälter kappen. Wenn Manager das bis zu 900-Fache eines Facharbeiters verdienen, ist das unverschämt und nicht mehr begründbar. Die soziale Marktwirtschaft erlaubt inzwischen Wucher und Gier, viele der Profiteure zahlen nicht mal Steuern in Deutschland. Ein Beispiel: Das Mietrecht funktioniert nicht, es muss geändert werden. Wenn ein Haus abbezahlt ist und keine großen Schäden zu beheben sind, gibt es keinen Grund für eine Mieterhöhung. Wir müssen Höchstrenditen für Immobilien beschließen, damit der Gier eine Grenze gesetzt wird. Die Erbschaftsteuer muss erhöht werden, denn reiche Erben leisten durchs Erben nichts. Und Bildung muss kostenfrei sein von der Kita bis zur Uni, hier soll Leistung belohnt und gefördert werden. Das alles geht, aber nur gegen die Lobbyisten. Den Mindestlohn haben wir auch durchgesetzt.

Der Staat soll es also richten. Aber in Berlin funktionieren ja nicht mal die Bürgerämter.

Die Bürgerämter werden ein Lackmustest für Rot-Rot-Grün. Ich erwarte vom Senat, dass die Probleme in den Bürgerämtern im ersten Jahr gelöst werden. Wer dieses Thema nicht zu einem der wichtigsten der Stadt macht, hat den Ernst der Lage nicht verstanden.

Lahme Behörden, kaputte Schulen, marode S-Bahnen, Dauerstau auf den Straßen, kein funktionierendes W-Lan, ein immer noch nicht eröffneter Flughafen – was kann Berlin überhaupt?

Eine Menge. Vor allem kann Berlin Vielfalt. Aber die Stadt ist sozial gespalten – wie das ganze Land. Die SPD muss sich das eingestehen und sich ehrlich fragen: Sind wir für die Manager oder sind wir für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Auf wessen Seite stehen wir, an wessen Seite stellen wir uns? Diesen berühmten weißen älteren deutschen Herrn, der die AfD wählt, den will ich zurück in die SPD holen. Viele sogenannte Wutbürger verlangen Sicherheit und Orientierung. Und sie wollen ernst genommen werden. Wenn die Leute sagen: Seit die Flüchtlingsunterkunft hier ist, gibt es immer mehr Gedränge im Bus – dann sagen sie nichts Fremdenfeindliches, sondern sie beschreiben eine Konsequenz für das eigene Leben. Was müssen wir als SPD dann tun? Ganz einfach: Die Sache erklären und die Taktzahl der Busse erhöhen.

Geben Sie den neuen AfD-Abgeordneten im Parlament eigentlich die Hand?

In Mitteleuropa gibt man sich, wenn man begrüßt wird, selbstverständlich die Hand. So bin ich erzogen worden.

Zur Person
Raed Saleh, 39, sitzt seit 2006 für die SPD im Abgeordnetenhaus. Im Westjordanland geboren, wuchs er in Spandau auf und machte schnell Parteikarriere. Er ist verheiratet und Vater zweier Söhne. Seit fünf Jahren führt er die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Nach dem Rücktritt von Klaus Wowereit bewarb er sich neben dem damaligen Parteichef Jan Stöß und Michael Müller um die Nachfolge als Regierender Bürgermeister. Die SPD-Mitglieder stimmten deutlich für Müller.

Saleh ist überzeugter Sozialdemokrat und kämpft für gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur Uni. Er initiierte unter anderem das Brennpunktprogramm für Schulen.

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